William Hogarths "Beauty Line" war so gut wie ein
Versprechen für unsere Rubrik 'Das Buch des Monats'. Man konnte sie
nicht unerwähnt lassen, wenn man John Ruskins Wellenlinie, mit der er
die ideale Proportionierung seiner "britischen Villa" beschrieb, diskutieren
wollte. Natürlich ist Hogarths "beauty line" genauso wenig - oder noch
weniger - ein unverbrüchliches Gesetz oder gar eine universale mathematische
Regel, mit der man auf verlässliche Art ästhetische Wirkungen erzielen
kann. So wird man denn von Hogarth weiter zurückverwiesen: auf Michelangelo,
der ja anderweitig als Inbegriff von Regelverstoß und Gesetzesverletzung
gilt. Giovanni Paolo Lomazzo ist es, der in seinem Trattato
Dell'Arte De La Pittura, Scoltura, Et Architettura (1584/85)
mit Vorliebe vom "divino Michelangelo" spricht. Er tut dies schon zu
Beginn, im ersten der Definition der Malerei gewidmeten Kapitel seines
umfassenden Werkes. Dort ist die Rede von einer Anweisung, die Michelangelo
einem seiner Schüler gibt und die eben auch jene Schlangenlinie oder
'[figura] serpentinata' enthält. Im ganzen Wortlaut liest sich die Empfehlung
so: "che dovesse sempre fare la figura piramidale, serpentinata, & moltiplicata
per uno doi e tre". Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass nur auf diese
Weise die menschliche Figur und diese nämlich in - physischer wie seelischer
- Bewegung dargestellt werden könne. Lomazzo kommentiert: "Et in questo
precetto parmi che consista
tutto il secreto de la pittura".
In der erstaunlich frühen englischen Übersetzung
von Lomazzos Traktat durch Richard Haydocke (1598) liest sich das so:
"In which precept (in mine opinion) the whole mysterie of the arte consisteth".
Man kann unterschiedlicher Ansicht sein, ob "secreto" korrekt mit "mystery"
übersetzt sei, oder aber, ob daraus nicht eben noch zusätzlich ein Geheimnis
gemacht würde, ob die - doch durchaus konkret beschriebene, aber eben
vielen Künstlern verborgene - Kompositionsregel nunmehr vager, am Ende
gar 'bloß ästhetisch allgemein' aufgefasst würde. Hogarth, dem Letzteres
zweifelsohne zum zentralen Anliegen wird, zitiert jedenfalls die Haydockesche
Übersetzung und belässt das "mysterie". Und wenn dann Hogarths Text
und mit ihm das Zitat nach Lomazzo ins Italienische übersetzt respektive
zurückübersetzt wird, dann wird - wen wundert es - natürlich nicht am
Original überprüft. Stattdessen zitiert die "dall'Originale Inglese"
übersetzte, in Livorno 1761 publizierte und dasselbst - dem berühmten
Anlegeplatz der englischen Grand-Touristen namens "Leghorn" - einer
"dama Inglese" gewidmete "Analisi della Bellezza" Lomazzo so: "nel qual
precetto (secondo me) tutto il misterio dell'arte consiste". Da öffnet sich ein Kapitel Buchgeschichte und gibt
einen Einblick in die Notwendigkeit textkritischer Überlegungen! Aus
Lomazzos "secreto" ist also nicht nur ein "mistero", sondern gar ein
"misterio" geworden. War es zuerst ein "secreto de la pittura",
was gerade nahe genug an die konkrete künstlerische Tätigkeit herangerückt
war, ist es jetzt ganz universal ein "misterio dell'arte".
Nur der Hinweis auf die englische (!) Übersetzung Haydocks bleibt konstant
in den Hogarthschen Editionen. Ansonsten stellen sich Fragen nach dem
- kaum grundsätzlich bedachten -Bedeutungswandel. Folgt man dem Vocabolario
degli Accademici della Crusca gemäß der in Neapel publizierten Ausgabe
von 1747, so erscheint "misterio" eben mehr als ein bloßes "segreto"
in der Bedeutung eines - durchaus religiös gedachten - "segreto sacro".
Umgekehrt ist ein "segreto" zwar eine verborgene, aber eben auch eine
enthüllbare, keineswegs mysteriöse Angelegenheit, die einmal hervorgeholt
als "ricetta" verwendbar ist. 1753 gelangte der junge Schriftsteller Christlob
Mylius nach England, übersetzte den Text Hogarths und starb daselbst
im folgenden Jahr. Das Buch erschien erstmals 1754 gleichzeitig bei
Andreas Linde in London und J.W. Schmidt in Hannover. Der mit Mylius
verschwägerte Lessing ließ dann noch im gleichen Jahr bei Christian
Friedrich Voss in Berlin und Potsdam einen "verbesserten und vermehrten
Abdruck" folgen. Wie liest sich wohl hier, in der deutschen Übersetzung,
das Urteil Lomazzos? Man wird kaum überrascht sein. Mylius, von Lessing
gefolgt, schreibt: "In dieser Regel besteht (nach meiner Meinung) das
ganze Geheimnis der Kunst". Wie wird man hier urteilen wollen? Ist "precetto"
schon eine Regel? Oder ist nicht vielmehr auch hier die Differenz zwischen
einer (bloßen) 'Vorschrift' und einer (grundsätzlicheren) 'Norm' oder
gar einer 'Ordnung' - so die Synonyme gemäß der zitierten Ausgabe des
Dizionario della Crusca - zu beachten? Jener führt die "regola", (was für eine verwirrende Koinzidenz!) mit Galen und dessen 'Regel' zur Auffindung
der 'dritten proportionalen Zahl', mithin der Regel vom 'goldenen Schnitt',
ein. Die deutsche Übersetzung wählt also "Regel" und
nicht "Vorschrift". Da scheinen sich alle 'kulturnationalen' Vorurteile
zu bestätigen. Dem deutschen Künstler nicht nur eine (bestimmte) Vorschrift,
sondern - allgemeiner - die "Regel"! Ginge es nur um den gehobenen Regelbedarf,
würde man eher an französische Kunsttheorie denken. Allein, die deutsche
Übersetzung bemüht sich nicht nur um Präzisierung des bloßen "precetto"
als Regel, sie setzt dem am anderen Ende des Lomazzo-Zitats eine weitere
Verallgemeinerung hinzu: weder "secreto de la pittura" noch "mysterie",
sondern deutlicher - ganz deutsch-geistig - "das ganze Geheimnis der
Kunst". Das mag alles ein bisschen übertrieben herausgestellt, überinterpretiert erscheinen! Doch regt der unmittelbare Textvergleich zu solchen subtilen Beobachtungen durchaus an. Und dahinter versteckt sich, was sich wie ein roter Faden durch die ganze Kunsttheorie zieht: Variationen zum schwierigen Umgang mit Regeln, zu deren gesuchter und gleichermaßen gefürchteter voreiliger Festlegung. Flucht aus der Bindung zugunsten größerer künstlerischer Freiheit! "Variety" steht unter der 'gläsernen' Pyramide auf dem Titelblatt von Hogarths Analysis of Beauty, in der s-förmig ein Schlänglein sich nach oben räkelt. Frei oder gefangen? Man weiß es nicht. Werner Oechslin
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