Buch des Monats November 2000





William Hogarth:

The Analysis of Beauty



THE | ANALYSIS | OF | BEAUTY. | Written with a view of fixing the fluctuating  IDEAS of |TASTE. | BY WILLIAM HOGARTH. | ... | LONDON: | Printed by J. REEVES for the AUTHOR, | And Sold by him at his House in LEICESTER-FIELDS. | MDCCLIII.

 

William Hogarths "Beauty Line" war so gut wie ein Versprechen für unsere Rubrik 'Das Buch des Monats'. Man konnte sie nicht unerwähnt lassen, wenn man John Ruskins Wellenlinie, mit der er die ideale Proportionierung seiner "britischen Villa" beschrieb, diskutieren wollte. Natürlich ist Hogarths "beauty line" genauso wenig - oder noch weniger - ein unverbrüchliches Gesetz oder gar eine universale mathematische Regel, mit der man auf verlässliche Art ästhetische Wirkungen erzielen kann. So wird man denn von Hogarth weiter zurückverwiesen: auf Michelangelo, der ja anderweitig als Inbegriff von Regelverstoß und Gesetzesverletzung gilt. Giovanni Paolo Lomazzo ist es, der in seinem Trattato Dell'Arte De La Pittura, Scoltura, Et Architettura (1584/85) mit Vorliebe vom "divino Michelangelo" spricht. Er tut dies schon zu Beginn, im ersten der Definition der Malerei gewidmeten Kapitel seines umfassenden Werkes. Dort ist die Rede von einer Anweisung, die Michelangelo einem seiner Schüler gibt und die eben auch jene Schlangenlinie oder '[figura] serpentinata' enthält. Im ganzen Wortlaut liest sich die Empfehlung so: "che dovesse sempre fare la figura piramidale, serpentinata, & moltiplicata per uno doi e tre". Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass nur auf diese Weise die menschliche Figur und diese nämlich in - physischer wie seelischer - Bewegung dargestellt werden könne. Lomazzo kommentiert: "Et in questo precetto parmi che consista tutto il secreto de la pittura".

In der erstaunlich frühen englischen Übersetzung von Lomazzos Traktat durch Richard Haydocke (1598) liest sich das so: "In which precept (in mine opinion) the whole mysterie of the arte consisteth". Man kann unterschiedlicher Ansicht sein, ob "secreto" korrekt mit "mystery" übersetzt sei, oder aber, ob daraus nicht eben noch zusätzlich ein Geheimnis gemacht würde, ob die - doch durchaus konkret beschriebene, aber eben vielen Künstlern verborgene - Kompositionsregel nunmehr vager, am Ende gar 'bloß ästhetisch allgemein' aufgefasst würde. Hogarth, dem Letzteres zweifelsohne zum zentralen Anliegen wird, zitiert jedenfalls die Haydockesche Übersetzung und belässt das "mysterie". Und wenn dann Hogarths Text und mit ihm das Zitat nach Lomazzo ins Italienische übersetzt respektive zurückübersetzt wird, dann wird - wen wundert es - natürlich nicht am Original überprüft. Stattdessen zitiert die "dall'Originale Inglese" übersetzte, in Livorno 1761 publizierte und dasselbst - dem berühmten Anlegeplatz der englischen Grand-Touristen namens "Leghorn" - einer "dama Inglese" gewidmete "Analisi della Bellezza" Lomazzo so: "nel qual precetto (secondo me) tutto il misterio dell'arte consiste".

Da öffnet sich ein Kapitel Buchgeschichte und gibt einen Einblick in die Notwendigkeit textkritischer Überlegungen! Aus Lomazzos "secreto" ist also nicht nur ein "mistero", sondern gar ein "misterio" geworden. War es zuerst ein "secreto de la pittura", was gerade nahe genug an die konkrete künstlerische Tätigkeit herangerückt war, ist es jetzt ganz universal ein "misterio dell'arte". Nur der Hinweis auf die englische (!) Übersetzung Haydocks bleibt konstant in den Hogarthschen Editionen. Ansonsten stellen sich Fragen nach dem - kaum grundsätzlich bedachten -Bedeutungswandel. Folgt man dem Vocabolario degli Accademici della Crusca gemäß der in Neapel publizierten Ausgabe von 1747, so erscheint "misterio" eben mehr als ein bloßes "segreto" in der Bedeutung eines - durchaus religiös gedachten - "segreto sacro". Umgekehrt ist ein "segreto" zwar eine verborgene, aber eben auch eine enthüllbare, keineswegs mysteriöse Angelegenheit, die einmal hervorgeholt als "ricetta" verwendbar ist.

1753 gelangte der junge Schriftsteller Christlob Mylius nach England, übersetzte den Text Hogarths und starb daselbst im folgenden Jahr. Das Buch erschien erstmals 1754 gleichzeitig bei Andreas Linde in London und J.W. Schmidt in Hannover. Der mit Mylius verschwägerte Lessing ließ dann noch im gleichen Jahr bei Christian Friedrich Voss in Berlin und Potsdam einen "verbesserten und vermehrten Abdruck" folgen. Wie liest sich wohl hier, in der deutschen Übersetzung, das Urteil Lomazzos? Man wird kaum überrascht sein. Mylius, von Lessing gefolgt, schreibt: "In dieser Regel besteht (nach meiner Meinung) das ganze Geheimnis der Kunst".

Wie wird man hier urteilen wollen? Ist "precetto" schon eine Regel? Oder ist nicht vielmehr auch hier die Differenz zwischen einer (bloßen) 'Vorschrift' und einer (grundsätzlicheren) 'Norm' oder gar einer 'Ordnung' - so die Synonyme gemäß der zitierten Ausgabe des Dizionario della Crusca - zu beachten? Jener führt die "regola", (was für eine verwirrende Koinzidenz!) mit Galen und dessen 'Regel' zur Auffindung der 'dritten proportionalen Zahl', mithin der Regel vom 'goldenen Schnitt', ein.

Die deutsche Übersetzung wählt also "Regel" und nicht "Vorschrift". Da scheinen sich alle 'kulturnationalen' Vorurteile zu bestätigen. Dem deutschen Künstler nicht nur eine (bestimmte) Vorschrift, sondern - allgemeiner - die "Regel"! Ginge es nur um den gehobenen Regelbedarf, würde man eher an französische Kunsttheorie denken. Allein, die deutsche Übersetzung bemüht sich nicht nur um Präzisierung des bloßen "precetto" als Regel, sie setzt dem am anderen Ende des Lomazzo-Zitats eine weitere Verallgemeinerung hinzu: weder "secreto de la pittura" noch "mysterie", sondern deutlicher - ganz deutsch-geistig - "das ganze Geheimnis der Kunst".

Das mag alles ein bisschen übertrieben herausgestellt, überinterpretiert erscheinen! Doch regt der unmittelbare Textvergleich zu solchen subtilen Beobachtungen durchaus an. Und dahinter versteckt sich, was sich wie ein roter Faden durch die ganze Kunsttheorie zieht: Variationen zum schwierigen Umgang mit Regeln, zu deren gesuchter und gleichermaßen gefürchteter voreiliger Festlegung. Flucht aus der Bindung zugunsten größerer künstlerischer Freiheit! "Variety" steht unter der 'gläsernen' Pyramide auf dem Titelblatt von Hogarths Analysis of Beauty, in der s-förmig ein Schlänglein sich nach oben räkelt. Frei oder gefangen? Man weiß es nicht.


Werner Oechslin

 

 


© 2000 Stiftung Bibliothek Werner Oechslin, 9.8.2000