Endosymbiose - ein Motor der Evolution

von Prof. Dr. Klaus V. Kowallik, Uni Düsseldorf
biologen heute Vol: 1/1999


Mutation und Selektion als treibende Kräfte der Evolution Darwinscher Prägung haben bereits gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eine wesentliche Ergänzung erfahren, als die beiden deutschen Biologen Richard Altmann und Andreas Schimper den revolutionären Gedanken äußerten, Mitochondrien und Plastiden seien ursprünglich frei lebende Organismen gewesen. Damit wurde ein völlig neuer Weg der Evolution aufgezeigt, der der linearen und hierarchisch gegliederten Artbildung Darwins die Entstehung neuer Organismengruppen durch symbiotische Ereignisse gegenüberstellt. Somit war der unter dem Einfluß Darwins von Ernst Haeckel begründete monophyletische Stammbaum der Organismen ungeeignet, Quantensprünge der Evolution zu erklären, etwa die Entstehung des Eukaryoten vor ca. zwei Milliarden Jahren oder das plötzliche Auftreten der Kieselalgen vor etwa 180 Millionen Jahren.

Entscheidend für die Annahme endosymbiotischer Ereignisse bei der Entstehung neuartiger Organismen war die Beobachtung, daß Mitochondrien und Plastiden niemals de novo entstehen, sondern stets durch Teilung auseinander hervorgehen, wie erstmals der Greifswalder Algenforscher Friedrich Schmitz durch Untersuchungen an Süßwasser- und Meeresalgen für die Plastiden nachweisen konnte.
Das Verdienst Schimpers war es, dieser Erkenntnis einen evolutionären Anstrich gegeben zu haben, den er allerdings nur in einer Fußnote äußerte: "Sollte es sich definitiv bestätigen, daß die Plastiden nicht neu gebildet werden, so würde ihre Beziehung zu dem sie enthaltenden Organismus einigermaßen an eine Symbiose erinnern. Möglicherweise verdanken die grünen Pflanzen wirklich einer Vereinigung eines farblosen Organismus mit einem mit Chlorophyll gleichmäßig tingierten ihren Ursprung".
So war diese Aussage gleichsam die Geburtsstunde der Endosymbioseforschung, die nach einer Blütezeit um die Jahrhundertwende bald in Vergessenheit geriet und erst durch die Molekularbiologie eine glänzende Wiedergeburt erfuhr.
Den Gedanken der symbiotischen Natur der Plastiden griff zunächst der geniale russische Evolutionsbiologe Konstantin Sergejewitsch Mereschkowsky wieder auf. In einer 1910 erschienenen Arbeit, in der er die Symbiogenese als eine neue Theorie von der Entstehung der Organismen begründete, stellte er die Gleichung auf:

Tiere + Chloroplasten = Pflanzen

und, indem er Kieselalgen als Modellorganismen für Pflanzen verwandte, fügte er dieser Gleichung die mathematisch korrekte, jedoch zu seiner Zeit nicht nachvollziehbare Umkehrung an:

Kieselalgen - Chloroplasten = Tiere

Wir können aus heutiger Sicht sagen, daß Mereschkowsky im Grundsätzlichen Recht hatte. Die Entstehung photoautotropher Eukaryoten durch symbiogenetische Prozesse, an denen heterotrophe Eukaryoten als Wirtszellen und photoautotrophe Organismen als Endocytobionten beteiligt waren, kann heute im Lichte molekularbiologischer Forschungen als bewiesen gelten. Auch für die Umkehrung der Gleichung, die eine Entstehung heterotropher (tierischer) Organismen aus ursprünglich photoautotrophen Algen durch Verlust der photosynthetischen Eigenschaften impliziert, finden sich auf molekularer Ebene zunehmend Beispiele, die die traditionellen Grenzen zwischen Tier- und Pflanzenreich zu verwischen beginnen. Hierzu zählen so berüchtigte humanpathogene Parasiten wie Plasmodium falciparum, der Erreger der tropischen Malaria, sowie Toxoplasma gondii, der Erreger der vielfach tödlich verlaufenden Toxoplasmose. Beiden Protozoen gemeinsam ist der Besitz eines zirkulären Plasmids von 35 Kilobasen (kb) Größe, dessen Organisation und Genbestand dem eines Chloroplastengenoms ähnlich ist. Tatsächlich residiert dieses Genom in einem membranbegrenzten Organell, welches als Relikt eines Chloroplasten interpretiert wird, der seine photosynthetischen Eigenschaften verloren hat.
Endosymbiose, d.h. das Weiterleben eines Organismus innerhalb eines anderen, ist nur selten, wenn überhaupt, zum Nutzen beider Partner ausgelegt. Meist zieht der Wirt den einzigen Vorteil aus einer solchen Verbindung, während der Endosymbiont ein versklavtes Dasein führen muß. Ein solches Sklavendasein ist aus evolutionärer Sicht verständlich, denn jede Endocytobiose ist, wenn sie von Dauer und vor allem vererbbar sein soll, darauf ausgerichtet, den Endosymbionten durch partiellen Entzug seines Genoms vom Wirt abhängig zu machen. Dabei bietet sich der Wirtszelle die Gelegenheit, über ein zusätzliches Genom zu verfügen, dessen Gene durchaus gewisse Vorteile gegenüber den Genen des eigenen Genoms haben können. Übertragung von Genen des Endosymbionten in das Genom des Wirtes ("gene transfer") sowie Ersatz von Wirtsgenen durch solche des Endosymbionten ("gene replacement") waren somit die entscheidenden evolutionären Wege bei der Entstehung neuer Organismengruppen. Eine dauerhafte Endosymbiose hat letztlich den Wirt in die Lage versetzt, über Stoffwechselprodukte des Endosymbionten verfügen zu können, um sie als energiereiche Verbindungen in den eigenen Stoffwechsel einzuschleusen.

Entstehung der Eukaryotenzelle

Stoffwechselphysiologische Abhängigkeiten zwischen ursprünglich selbständig lebenden Prokaryoten haben nach einer 1998 von William Martin (Braunschweig) und Miklós Müller (New York) aufgestellten Hypothese vermutlich auch die anfänglichen Schritte katalysiert, die zur Entstehung eines Eukaryoten geführt haben. Die Hypothese steht im Einklang mit der aus Sequenzanalysen abgeleiteten Erkenntnis, daß die Gene der Eukaryoten dualen Ursprungs sind und ihre Wurzeln bei den Bakteria (Eubakterien) und den Archaea (Archaebakterien) haben, bei Organismen aus zwei völlig verschiedenen Reichen, denen lediglich ihre prokaryotische Natur gemeinsam ist.
Die Martin-Müller-Hypothese geht davon aus, daß die Eigenschaften rezenter Eubakterien und Archaea denen ihrer Vorfahren in der prokaryotischen Welt vor mehr als zwei Milliarden Jahren ähnlich sind. So sind die meisten Eubakterien in der Lage, gelöste organische Verbindungen aufzunehmen, um in ihrem eigenen Stoffwechsel daraus Energie in Form von ATP neben körpereigener Substanz zu gewinnen. In einer noch weitgehend sauerstofffreien Welt haben sich solche Eubakterien ihre Energie hauptsächlich durch fermentativen Substratabbau angeeignet, so wie sie es noch heute unter vergleichbaren Bedingungen tun. Vielen Archaea hingegen ist der eubakterielle Ernährungsweg verwehrt, da sie nicht über die erforderlichen membranständigen Importsysteme verfügen. Als Energiequellen können methanogene Archaea molekularen Wasserstoff, Kohlendioxid und gelegentlich Acetat verwenden, alles Ausscheidungsprodukte fermentierender Eubakterien.
Wenn nun ein Wasserstoff verbrauchendes methanogenes Archaeon eine enge räumliche Beziehung zu einem anaerob fermentierenden, Wasserstoff produzierenden Eubakterium eingegangen wäre, dann hätte das Archaeon wegen der dadurch verminderten Diffusionsbarriere zweifellos einen Nutzen aus einer solchen Liaison ziehen können (Abb. 1a). Es wäre vor allem auch in der Lage gewesen, seinen eigenen Lebensraum, in dem molekularer Wasserstoff zur Verfügung steht, zu verlassen, da es nunmehr seinen eigenen Wasserstoffproduzenten fest an sich gebunden hat.
Es ist leicht verständlich, daß ein vollständiges Einschließen des Eubakteriums in das Archaeon dem Überleben des Endocytobionten nicht förderlich gewesen wäre, denn dem Eubakterium wäre die lebensnotwendige Nahrungsquelle entzogen worden. Um jedoch eine dauerhafte Endosymbiose zu schaffen, in der das Eubakterium zum Endosymbionten wird und das Archaeon die Wirtsfunktion übernimmt, mußte ein Weg gefunden werden, die Fähigkeit der Aufnahme gelöster Substrate auf die Wirtszelle zu übertragen. Dies kann nur durch lateralen Gentransfer vom Eubakterium zum Archaeon geschehen sein (Abb. 1a), ein Vorgang, der vielfach in der Natur auf allen Ebenen der Evolution stattgefunden hat. Zweifellos hat im weiteren Verlauf dieser sich anbahnenden ersten komplexen Zelle der Endosymbiont weitere Gene an den Wirt verloren, bis er schließlich nur noch wenige Gene für Proteine der Atmungskette behielt. Den heutigen Endzustand dieses Bakteriums kennen wir unter der Bezeichnung Mitochondrium, dessen hauptsächliche Aufgabe die aerobe Endoxidation der Substrate ist, die ihm nunmehr der Wirt zur Energieproduktion zur Verfügung stellt (Abb. 1b). Als Folge des lateralen Gentransfers mußte die Wirtszelle Mechanismen entwickeln, die einen Reimport der vom Endosymbionten benötigten Proteine gewährleisten. Diese gentechnologische Leistung ist als der eigentliche und kritische Schritt der Evolution zu bezeichnen. Er übersteigt in seiner Komplexität und Bedeutung alle gentechnologischen Experimente, die heute zu Tausenden in molekularbiologischen Labors durchgeführt werden.
Vermutlich war die Komplexierung des archaebakteriellen Genoms mit eubakteriellen Genen auch ein Anstoß für dieses Zellkonsortium, nach und nach Eigenschaften zu entwickeln, die heute zur Ausstattung einer jeden heterotrophen eukaryotischen Zelle gehören.

Entstehung der Pflanzenzelle

Dieser erste und für die Evolution bedeutendste Quantensprung wurde bald von ähnlichen Endocytobiosen gefolgt. So sind Plastiden nach der heute als bewiesen geltenden Endosymbiontentheorie aus ursprünglich frei lebenden Cyanobakterien entstanden, die von einem heterotrophen begeißelten Wirt aufgenommen wurden. Vermutlich sind auch hier stoffwechselbedingte Vorgänge als treibende Kraft für die Entstehung photosynthetischer Eukaryoten anzunehmen. Der Schritt hierzu, einmal erfolgreich bei der Entstehung des Eukaryoten beschritten, war in diesem Fall für beide Partner wesentlich problemloser. Wie zahlreiche rezente Endocytobiosen zwischen Cyanobakterien als Endosymbionten und verschiedenartigen heterotrophen und sogar photoautotrophen Eukaryoten zeigen, ist der Versuch zur Etablierung des ersten photosynthetischen Eukaryoten vermutlich oftmals über einen längeren Zeitraum hinweg unternommen worden. So wurde auch angenommen, daß mehrere voneinander unabhängige Endosymbiosen zwischen verschiedenen photosynthetischen Prokaryoten und unterschiedlichen heterotrophen Eukaryoten die Vielgestaltigkeit der heutigen Pflanzenwelt begründet haben. Derartige prokaryotisch/ eukaryotische Endosymbiosen bezeichnen wir als primär (Abb. 1c, d). Wie jedoch heute allgemein anerkannt wird, ist wohl nur eine einzige primäre Endosymbiose "erfolgreich" gewesen. Der "Erfolg" der primären Endosymbiose stellt sich auch hier wieder als Gentransfer vom Endosymbionten zur Wirtszelle dar und in der Fähigkeit, die Produkte der nunmehr eukaryotisch mutierten ehemaligen Cyanobakteriengene wieder in den Endosymbionten reimportieren zu können.
Ein monophyletischer Ursprung aller rezenten Plastiden, so er denn wirklich als einmaliges Ereignis stattgefunden hat, impliziert aber auch, daß die Plastiden der Rotalgen und die der Grünalgen - unbeschadet ihrer unterschiedlichen Pigmentausstattung - im phylogenetischen Sinne Schwesterplastiden sind, da sie einen gemeinsamen Ursprung besitzen. Er besagt weiterhin, daß die Wirtszellen dieser Algen, also ihr Eukaryon, sich gleichfalls aus einem gemeinsamen Vorfahr entwickelt haben, mit der Folge, daß beide Algenklassen somit monophyletischen Ursprungs sind. Neuere molekularbiologische Untersuchungen an Genen des Zellkerns scheinen diese Annahme zu bestätigen.

Vom Endosymbionten zum Organell

Der Verlust genetischer Information ließ den Endosymbionten zum Organell werden. Seine beiden Hüllmembranen, die nach heutiger Sicht der äußeren und inneren Membran des eubakteriellen Cyanobakteriums entsprechen, schließen bei den primitiven Glaucocystophyceen (einer heterogenen Gruppe von Einzellern mit Blaualgen-ähnlichen Plastiden) noch Reste der prokaryotischen Zellwand, des Mureinsacculus, ein. Erst der vollständige Verlust dieser Zellwand führte schließlich zu den Plastiden der Rotalgen, den Rhodoplasten, und zu denen der Grünalgen und Landpflanzen, den Chloroplasten (Abb. 1d).
Die Theorie der Plastidenentstehung setzt voraus, daß die rezenten photosynthetischen Organellen eindeutige Merkmale ihrer frei lebenden Vorfahren behalten haben. Dies hat sich in den vergangenen Jahren durch umfangreiche und sehr arbeitsintensive molekularbiologische Untersuchungen in glänzender Weise bestätigt. Bei diesen Untersuchungen ist aber auch herausgekommen, daß die Mehrzahl der heute lebenden Algen sich diese Endosymbionten erst auf Umwegen, gleichsam im "second-hand busi-ness" angeeignet haben. Bereits vor 20 Jahren hatte die Kanadierin Sarah (Sally) Gibbs aufgrund elektronenmikroskopischer Untersuchungen vermutet, daß alle Plastiden mit mehr als zwei Hüllmembranen (Hierzu zählen die Plastiden der Euglenophyceen und Dinophyceen mit drei und alle heterkont begeißelten Algen wie Kieselalgen und Braunalgen, sowie die der Cryptophyceen und Prymnesiophyceen mit vier Hüllmembranen.) das Ergebnis sekundärer Endosymbiosen sind. Darunter versteht man die Aufnahme eines photosynthetischen Eukaryoten durch einen heterotrophen Wirt, also eine eukaryotisch/eukaryotische Endosymbiose (Abb.1e).
Wie wir heute wissen, sind diese sekundären Endosymbiosen nicht monophyletisch, sondern polyphyletisch entstanden, zu unterschiedlicher Zeit und unter Beteiligung verschiedener Wirte und Endosymbionten. Wenn sich Forscher heute besonders mit den Abkömmlingen sekundärer Endosymbiosen befassen, dann nicht etwa, weil sie kurioses Spielzeug der Evolution sind. Vielmehr äußert sich ihre ökologische Bedeutung u.a. darin, daß sie als "komplexe" Algen die Hauptmasse der Primärproduzenten stellen, daß ihre globale photosynthetische Sauerstoffproduktion die aller Landpflanzen übertrifft und daß einige Arten eine bedeutende Rolle im CO2-Haushalt unserer Atmosphäre spielen, da sie dieses Treibhausgas dauerhaft als Calciumcarbonat binden (So bestehen z. B. die Kreidefelsen an Nord- und Ostsee aus Kalk-schuppen solcher einzelliger begeißelter Meeresalgen.).

Sekundäre Endosymbiosen

Welcher Art sind nun diese sekundären Endosymbionten, und welchen Verwandtschaftskreisen entstammen die sekundären Wirtszellen? Phylogenetische Distanzberechnungen, die mit dem Gen für die kleine Untereinheit der eukaryotischen ribosomalen RNAs, der sog. 18S rRNA, angestellt wurden, weisen klar darauf hin, daß z.B. die Wirtszelle der Euglenophyceen ihre nächsten Verwandten bei den Trypanosomiden hat, während die Wirtszelle der Dinoflagellaten mit Ciliaten verwandt ist. Zahlreiche Vertreter aus diesen protozoischen Gruppen sind befähigt, feste Nahrung durch Phagozytose aufzunehmen. Was lag da näher, die Nahrungsgrundlage, so sie eine photosynthetische Alge war, nicht mehr zu verdauen, sondern als Endosymbiont zu kultivieren?
Hinsichtlich der Chloroplasten der Euglenen bestanden berechtigte Hinweise, diese als Abkömmlinge ursprünglich frei lebender Grünalgen zu interpretieren, da die Plastiden beider Algen über die gleichen Photosynthesepigmente verfügen. So war das Genom der Euglena-Chloroplasten nicht nur die erste vollständig bekannte Nukleotidsequenz einer Algenplastide, sondern es zeigte auf molekularer Ebene auch sehr deutlich die enge Verwandtschaft der Plastiden von Euglena mit denen der Landpflanzen auf, die sich erst vor etwa 400 Millionen Jahren aus Grünalgen entwickelt haben. Das vier Jahre später (1997) durch eine japanische Arbeitsgruppe veröffentlichte Chloroplastengenom der Grünalge Chlorella vulgaris und das in meiner Arbeitsgruppe sequenzierte Chloroplastengenom der marinen Grünalge Bryopsis plumosa bestätigen eindeutig, daß Euglena ihre Plastiden aus ursprünglich frei lebenden Grünalgen erhalten hat. So sind nicht nur die Art der Gene vergleichbar, sondern auch die im Laufe des Reduktionsprozesses des primären Endosymbionten entstandenen Genanordnungen entsprechen einander.
Während der Umwandlung sekundärer Endosymbiosen in genetisch stabile komplexe Zellen ist, wie bei der primären Endosymbiose, Gentransfer und vor allem differentieller Genverlust der treibende Motor gewesen, allerdings in einem weitaus größeren Maßstab. Und wieder war es der Endosymbiont, der auf Gene verzichten und damit seine Selbständigkeit aufgeben mußte. Wie Abb. 1e zeigt, verfügte die komplexe Zelle bei ihrer Entstehung zusätzlich zum Plastidengenom über zwei vollständige Kerngenome sowie über zwei bereits reduzierte mitochondriale Genome. Auch wenn wir die Mechanismen nicht kennen, die zu einer Eliminierung redundanter und damit überflüssiger genetischer Information führen, so können wir dennoch feststellen, daß mit zunehmendem Komplexitätsgrad eine Zelle nicht etwa ihren Besitz an genetischer Information vermehrt, sondern daß die Genausstattung einer komplexen Zelle im Endzustand etwa der einer Zelle aus einer primären Endosymbiose entspricht. Für den Reduktionsvorgang ist stets der vollständige Verlust der Mitochondrien des Endosymbionten und zumeist der seines Zellkerns verantwortlich.

"Missing links"

Evolutionsbiologen sind stets dafür dankbar, wenn in einer langen Kette evolutionärer Ereignisse, deren Ausgangs- und Endsituation wir kennen, auch noch Zwischenstadien existieren. Dies ist tatsächlich bei zwei Algengruppen der Fall, den einzelligen begeißelten Cryptophyten (Cryptomonaden) und den amöboiden Chlorarachniophyten. Bei beiden Protistengruppen hat sich ein rudimentärer Zellkern des Endosymbionten erhalten, der in beiden Fällen noch über drei mit Genen ausgestattete Chromosomen verfügt (Abb. 1f). Von großem Interesse ist es daher, Kenntnis über die Genausstattung dieser Chromosomen zu erhalten, da sie Auskunft über die Mechanismen geben können, die den differentiellen Genverlust steuern. An der Lösung dieser Aufgabe arbeiten gegenwärtig in einem multinationalen Sequenzierprojekt Forscher aus Australien, Kanada und Deutschland. Wie die Unterschiede im Bau der beiden Algenklassen und der Pigmentausstattung ihrer Plastiden bereits vermuten ließen, so haben erste Sequenzanalysen plastidärer Gene klar den polyphyletischen Ursprung dieser beiden komplexen Algenklassen aufgezeigt: Während die Plastiden der Cryptophyceen die Relikte ursprünglich frei lebender Rotalgen sind, hat der Wirt der Chlorarachniophyten wie derjenige der Euglenophyten Grünalgen als Endosymbionten aufgenommen.

Die Herkunft der "Chromophyten"

Den Endzustand komplexer Zellen repräsentieren die Chlorophyll-c-haltigen Braunalgen, Kieselalgen und Goldalgen, die zusammen mit weiteren Gruppen als "Chromophyten" bezeichnet werden. Bei ihnen überlebten von den Endosymbionten allein die Plastiden. Diese sind gegenüber dem Zytoplasma der Wirtszelle durch vier Membranen abgegrenzt, von denen die äußere mit Ribosomen besetzt ist und mit der Kernhülle in Kontakt steht (Abb. 1g). Sie stellt vermutlich die Endocytosemembran der sekundären Wirte dar, während die zweitäußere Membran aus dem Plasmalemma des Endosymbionten hervorgegangen ist. Die beiden inneren Membranen hingegen sind identisch mit der typischen Chloroplastenhülle primärer Plastiden. Problematisch blieb jedoch die Antwort auf die Frage nach der Natur der photosynthetischen Endosymbionten. Anfängliche Gensequenzanalysen zu Beginn der 90er Jahre haben Hinweise erbracht, daß die Plastiden dieser Algen mit denen der Rotalgen verwandt zu sein scheinen. Sollten aber tatsächlich die Plastiden aller Chlorophyll-c-haltiger braunen Algen auf Rotalgen zurückzuführen sein, dann kann erwartet werden, daß Gemeinsamkeiten auf genomischer Ebene bestehen.

Evolution der Plastiden

1995 wurde die erste Chloroplastensequenz einer Rotalge (Porphyra purpurea) durch den Kanadier Michael Reith und gleichzeitig die erste Plastidensequenz einer Chlorophyll-c-haltigen Alge, der Kieselalge Odontella sinensis (Abb. 2), durch meine Arbeitsgruppe veröffentlicht. Obgleich beide Sequenzen bisher die einzigen Beispiele aus diesem evolutionären Komplex sind, wurde anhand des Genbestandes und der Organisation von Gengruppierungen beider Genome die Urheberschaft der komplexen Plastiden offensichtlich: Ohne Zweifel können wir sagen, daß die Kieselalgen und damit auch die übrigen Chlorophyll-c-haltigen Algen aus Endosymbiosen hervorgegangen sind, die allesamt Rotalgen als Endosymbionten enthielten.
Im Laufe der Evolution haben die Plastidengenome von Grünalgen und Landpflanzen infolge differentiellen Gentransfers etwa 50 Gene gegenüber dem von Odontella und etwa 130 Gene im Vergleich zum Plastidengenom von Porphyra verloren. Hiervon betroffen waren vor allem Gene für ribosomale Proteine, aber auch solche, deren Produkte an der Energiekonversion während der Photosynthese beteiligt sind. Es ist auffallend, daß solche Verluste die Anordnung der benachbarten Gene im Plastidengenom in keiner Weise beeinflußt haben. Die eigentlichen Ursachen und molekularen Mechanismen des differentiellen Gentransfers sind uns heute noch gänzlich unbekannt.

Schlussbemerkung

Endosymbiose als Motor der Evolution, vielleicht sogar als ihr stärkster, bedeutete immer das Zusammenwachsen unterschiedlicher, ehemals selbständiger Partner, die ein im Daseinskampf erfolgreiches neues Konsortium bilden. Die evolutionären Vorläufer der Chloroplasten sind für den Wirt zunächst eine Nahrungsgrundlage gewesen, die sein eigenes Überleben sicherten. Er hat sich über Hunderte von Millionen Jahren ihrer bedient, sie verdaut und ihre unverdaulichen Reste ausgeschieden. Im Laufe der Evolution hat er sie dann als Gastarbeiter geduldet, bis er merkte, daß diese über Fähigkeiten verfügen, die er selbst nicht hatte, Fähigkeiten, die ein gemeinsames Weiterkommen im Daseinskampf Darwinscher Prägung sicherten. Er war als Einzeller "klug" genug, dies zu erkennen.


Zum Autor:

Klaus V. Kowallik
Jahrgang ´39.
Studium Biologie, Chemie in Erlangen, Würzburg, Wien. Promotion Wien 1965, Habilitation Marburg 1972. Professor für Botanik an der H.-Heine-Universität Düsseldorf, seit 1973 Leiter der Arbeitsgruppe Molekulare Evolution der Algen.


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