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Einleitende BemerkungenA Harlot’s Progress ("Der Lebenslauf einer Hure") ist der Titel einer Serie von ursprünglich sechs Gemälden, die der englische Künstler William Hogarth (1697-1764), der für seine gesellschaftskritischen Bildsatiren bekannt ist, 1730-31 malte. Diese Ölbilder wurden jedoch am 13. Februar 1755, rund 25 Jahre nach ihrer Entstehung, durch ein Feuer in Fonthill, dem Landsitz des Politikers William Beckford, zerstört. Sie haben sich – vielleicht mit Ausnahme einer Vorläuferversion der zweiten Szene [Einberg: William Hogarth: A Complete Catalogue of the Paintings, 58 (vgl. zu den abgekürzten Literaturhinweisen die ausführliche Bibliographie am Ende des Essays)] und zweier womöglich aus den Flammen geretteter Gemälde der Szenen 2 und 4, die sich leider in einem relativ schlechten Zustand befinden [Webster: William Hogarth: Disegni, dipinti, incisioni, 74-76; Paulson: Hogarth, Volume 1, 372, Anm. 3] – nur in der Kupferstichversion von 1732 erhalten, deren Blätter im Format 30 × 37,5 cm veröffentlicht wurden [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 76-83, 288-293; Hinz et al.: William Hogarth, 81-89].Die verbrannten Ölbilder und mögliche verworfene UrsprungsversionenÜber die im 18. Jahrhundert verbrannten Ölbilder ist wenig bekannt. Elizabeth Einberg geht in ihrem aktuellen, 2016 erschienenen Œuvre-Katalog der Gemälde Hogarths recht intensiv auf die wohl aus Samuel Irelands Sammlung stammende, angebliche Ursprungsversion der zweiten Szene ein [Einberg: William Hogarth: A Complete Catalogue of the Paintings, 57-60], doch könnte es sich bei diesem Ölbild um eine nicht von Hogarth selbst ausgeführte, sondern um eine von anderer Hand gemalte Variante handeln, zumal hier die Motive (ähnlich wie bei der Kopie aus der Ascott-Sammlung) in der gleichen Orientierung wie auf dem Stich und nicht (wie es bei dem zugehörigen Gemälde üblicherweise zu erwarten wäre) in seitenverkehrter Ansicht erscheinen. Auch weist das Bild einige malerische Schwächen auf. Andererseits gibt es bei dieser Darstellung so viele abgewandelte Nebenmotive – sogar die im Bild an der Wand hängenden Bilder zeigen ganz andere biblische Szenen als im Stich! –, dass man davon ausgehen müsste, dass ein Kopist, offenbar in Unkenntnis der satirischen Absichten des Künstlers, all diese Details in Eigeninitiative so sehr abgeändert hat, dass es zu einer Verfälschung der ursprünglichen Bildaussage kam. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass es Hogarth selbst war, der eine oder mehrere vorläufige Ölskizzen anfertigte, dann aber die ursprünglich für die Ölbilder vorgesehenen Motive in der definitiven Fassung und in der späteren Stichversion abgewandelt hat. Ein abschließendes Urteil, ob es sich bei dem von Einberg abgebildeten Gemälde um eine frühe Studie, bei der Hogarth eigenhändig den Pinsel schwang, und bei den zwei anderen überkommenen Ölbildern (die alle Details wie in den Kupferstichen, jedoch in seitenverkehrter Ansicht zeigen) um Originale handelt, die 1755 das Feuer in Fonthill mehr oder weniger unbeschadet überstanden haben, lässt sich bislang nicht fällen. Es wäre durchaus möglich, dass diese Bilder lediglich zeitgenössische oder später entstandene Kopien sind. Andere Gemälde der Harlot-Serie, auf die man gelegentlich in englischen Sammlungen stößt, sind jedenfalls eindeutig von anderer Hand nach Hogarths Kupferstichen gemalt worden. Deswegen behandelt dieser Online-Essay nur die von Hogarth selbst angefertigten sechs Originalstiche unter Berücksichtigung neuester Forschungsergebnisse.Die ProtagonistinGeschildert wird in A Harlot’s Progress das Auf und Ab im Hurenleben einer jungen Frau namens M. (Moll oder Mary) Hackabout. (Ihr Name geht aus den Initialen "M. H." in den Szenen 1 und 5, aus dem an sie adressierten Brief, der in Szene 3 aus der Schublade ragt, und vor allem aus der Beschriftung des Sargdeckels in Bild 6 hervor, auf dem steht: "M. Hackabout, gestorben am 2. Sept. 1731 im Alter von 23 Jahren.")
Mehrere unterschiedliche Stationen kennzeichnen innerhalb der Bilderserie ihren Lebensweg: Moll oder Mary kommt zu Beginn als naives, unschuldiges Mädchen aus der Provinz nach London, wird dort durch die verderblichen Einflüsse des halbseidenen Milieus zur Prostituierten, hat zunächst sogar einigen Erfolg als Kurtisane eines reichen Kaufmanns, scheitert aber letztlich an ihrem Lebenswandel, denn sie wird wegen ihrer illegalen Aktivitäten als Sexarbeiterin (und wohl auch wegen Diebstahls) verhaftet, landet im Arbeitshaus des Bridewell-Gefängnisses und stirbt bereits in jungen Jahren an der Syphilis. Die Entstehung der Bilderserie und der für sie gewählte TitelUrsprünglich hatte Hogarth gar nicht vorgehabt, eine sechsteilige Bilderserie zum Lebenslauf einer Hure zu malen, sondern zunächst nur ein einziges Gemälde, nämlich das dritte Bild, ausgeführt, das eine hübsche Prostituierte zeigt, die in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett sitzend zu mittäglicher Stunde ihr Frühstück einnimmt, wobei sie den Betrachter unverfroren anblickt und ihm in aufreizender Weise eine ihrer Brüste präsentiert. Diese erste Darstellung (oder alternativ eine früher entstandene, später aber verworfene Vorläuferversion der gleichen Szene) könnte, inspiriert von Hogarths Beggar’s Opera-Gemälden [Paulson: Hogarth, Volume 1, 239-240; Simon: Hogarth, France and British Art, 257-268; Einberg: William Hogarth: A Complete Catalogue of the Paintings, 32-40], sogar schon 1728/29 gemalt worden sein [Einberg: William Hogarth: A Complete Catalogue of the Paintings, 56]. Besucher des Ateliers, die den Künstler beim Malen dieses Bildes sahen, schlugen ihm vor, weitere Szenen aus dem Leben einer Dirne darzustellen. So schildert es der Kupferstecher George Vertue, ein Zeitgenosse von Hogarth ["Vertue Note Books III", 58; Paulson: Hogarth, Volume 1, 237-238; Hallett: The Spectacle of Difference, 100-101]. Und genau dies tat Hogarth wenig später auch. Zunächst malte er ein zweites Bild (nach Ansicht von Michael Godby die zweite Szene), dann vier weitere Gemälde [Godby: "The First Steps of Hogarth’s Harlot’s Progress"].Der für die sechs Bilder gewählte Titel und die mit allegorischen Anspielungen angereicherten Szenen erinnern ironisch an John Bunyans christliches Erbauungsbuch The Pilgrim’s Progress (Des Pilgers Reise von dieser zur zukünftigen Welt) [Paulson: Hogarth, Volume 1, 10-11 und 377, Anm. 6]. In dieser erstmals 1678 erschienenen Schrift, die noch im 18. Jahrhundert (und später) in England weit verbreitet war, schildert der Autor in Form eines Traums in lebhaft-volkstümlicher Prosa mit puritanisch-moralisierendem Einschlag, wie "Christian" (der stellvertretend für einen gläubigen Christen steht) als Pilger seine sündige Heimatstadt verlässt, die der Zerstörung anheimfallen wird, um – von christlich gesinnten Gefährten begleitet und von etlichen Versuchern hinters Licht geführt – nach vielen Irrungen und Wirrungen (etwa im "Sumpf der Verzagtheit", im "Tal der Todesschatten", auf dem "Jahrmarkt der Eitelkeiten" oder der "Burg des Zweifels") letztlich in der "himmlischen Stadt" auf dem Berg Zion seinen Seelenfrieden zu finden. Im 1684 erschienenen zweiten Teil der Story bricht "Christiana" (Christians Frau) mit ihren Kindern zu einer ähnlichen, wenn auch weniger abenteuerlichen Tour zum himmlischen Jerusalem auf. Das Fazit lautet für beide Pilgerreisen: Die vielen irdischen Anfechtungen vermögen wahre Christen in ihrem festen, bibeltreuen Glauben nicht zu erschüttern [Haferkamp: Bunyan als Künstler]. In A Harlot’s Progress wird dieser für strenggläubige Christen vorbildhafte Lebensweg, der quasi im Paradies endet, von Hogarth bewusst ins Gegenteil verkehrt, denn das lasterhafte Treiben der Hure führt – in sarkastischer Umkehr von Bunyans puritanischer Traumwelt – nicht zum Seelenheil im Himmel, sondern – forciert durch das Londoner Sündenbabel – eher zu den Schattenseiten des Lebens, nämlich in die irdische Hölle des untersten Prostituiertenmilieus, wo die von ihren Freiern mit Syphilis infizierte Protagonistin eines frühen, rein profanen, unchristlichen Todes stirbt. Die Verwendung des Wortes "harlot" (statt des moderneren Ausdrucks "whore" oder "prostitute") für Hure musste schon Kunstkennern und Sammlern des 18. Jahrhunderts recht altertümlich vorgekommen sein und geschah offenbar mit voller Absicht, um den Betrachter auf die in den Bildern versteckten biblischen Motive vorzubereiten [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 77; Wagner: William Hogarth: Das graphische Werk, 58]. Der Vorname der Heldin spielt womöglich auf Daniel Defoes Moll Flanders oder die Jungfrau Maria an [Paulson: Hogarth, Volume 1, 239, 247, 251], ihr Nachname wahrscheinlich auf Kate Hackabout, eine notorische Prostituierte jener Tage und Schwester des Straßenräubers Francis Hackabout, der am 17. April 1730 gehängt wurde [Paulson: Hogarth, Volume 1, 245; Details hierzu und zur Kriminalität jener Zeit bei Rictor Norton]. Der führende deutsche Hogarth-Interpret des 18. Jahrhunderts, Georg Christoph Lichtenberg, meint zum Namen der Hure: "Das englische Zeitwort to hack drückt, von einem weiblichen Geschöpf gebraucht, allen nur möglichen Schimpf aus, womit es belegt werden kann. Mamsell Maria Jedermanns ist noch die gelindeste Übersetzung ..." [Lichtenberg: Schriften und Briefe, Band III: 746; Schmitz-Emans: Die Literatur, die Bilder und das Unsichtbare, 109]. Da etliche Szenen der Harlot-Serie satirisch auf die christliche Ikonographie, vor allem auf das Leben Mariae, anspielen, ist anzunehmen, dass Hogarth bei den Initialen der Dirne primär an den Vornamen "Mary" gedacht hat, aber ganz bewusst auch andere Interpretationen zulassen wollte, damit der Betrachter ins Grübeln kommt. |
Der lukrative Vertrieb der Stiche auf SubskriptionsbasisDa das schlüpfrige Thema besonders beim männlichen Publikum gut ankam, bot Hogarth seine Bilderserie A Harlot’s Progress in Zeitungsanzeigen auch in Form von Kupferstichen auf Subskriptionsbasis an [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 76-77]. Hierzu radierte er 1731 für jeden potentiellen Käufer ein Subskriptions-Ticket, das später unter dem Namen Boys Peeping at Nature bekannt wurde [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 75-76, 287; Busch: Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip, 124-27; Czaplicka: "Zur Herausbildung satirischer Methoden bei Hogarth"; Krysmanski: Hogarth’s Hidden Parts, 102-108; Wagner: William Hogarth: Das graphische Werk, 8-10; Kepetzis: "Empirie und bildimplizite Kunsttheorie"]. Es zeigt nackte Putten beim Kunststudium und ein obszönes Detail, nämlich einen jungen Satyr, der einer Statue der vielbrüstigen Diana von Ephesus unter den Rock schaut, wobei dieser so überaus neugierige Satyr quasi stellvertretend für Hogarth steht, der mit seiner Kunst den freien, unzensierten Zugang zur Natur sucht.Die Rechnung ging auf und die komplette Harlot-Serie konnte in ihrer Kupferstichfassung, die 1731-32 entstand, sage und schreibe 1240 Mal für je eine Guinee (21 Schillinge) an den Mann gebracht werden ["Vertue Note Books III", 58]. (Das hier erstmals mit großem Erfolg praktizierte Geschäftsmodell, die Stichversion von A Harlot’s Progress ohne direkte Zusammenarbeit mit Bilderhändlern in Eigeninitiative auf Subskriptionsbasis herauszugeben, behielt Hogarth aus geschäftlichem Kalkül auch später bei.) Allerdings vermiesten dem Künstler zahlreiche Raubkopien das Geschäft [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 76-77; Clayton: The English Print, 1688-1802, 82-83; Dabhoiwala: Lust und Freiheit, 344-348, 352-353 und 481, Anm. 8]. Um dies in Zukunft zu verhindern, setzte er 1735 ein Urheberrecht für Stecher durch (8 Geo. II. Cap. 13), auch bekannt als Hogarth Act [Hunter: "Copyright Protection for Engravings and Maps"; Paulson: Hogarth, Volume 2, 35-47; Döring: "Die Bedeutung des Hogarth Act"]. Zusätzlich ließ er den Stecher Giles King auf zwei Platten (mit je drei Bildern) eine billigere, im Format verkleinerte Variante seiner sechs Stiche herstellen [abgebildet bei Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 294-295; Hallett: The Spectacle of Difference, 126; Dabhoiwala: Lust und Freiheit, 349], über deren Vertrieb er die Kontrolle behielt. Nachahmer und Hogarths Herausgabe der Stiche in zweiter AuflageZu erwähnen wäre noch, dass die gestochene Version von A Harlot’s Progress direkt nach ihrem Erscheinen Anregungen für etliche Pamphlete und Gedichte (darunter auch Publikationen mit pornographischem Einschlag), ja sogar für eine Balladen-Oper und ein Pantomimenstück lieferte, die sich alle mit dem Lebenslauf einer Hure beschäftigten [Moore: Hogarth’s Literary Relationships, 28-44; Barbieri: "La carriera teatrale di A Harlot's Progress di William Hogarth"]. Selbst auf Gebrauchsgegenständen, z.B. Fächerblättern, Tassen und Tellern, tauchten die Hogarthschen Motive auf [Brewer: "Making Hogarth Heritage", 32, 35-37; Tharp: Hogarth’s China, 36-43]. Da der Erfolg auch noch Jahre später anhielt, brachte Hogarth die Harlot-Stiche ab 1744 in einer zweiten Auflage heraus. Weil er den Sammlern der ersten Drucke eine begrenzte Anzahl von Abzügen zugesichert hatte, überarbeitete er für die Neuausgabe einige Details, darunter auch das Antlitz der Kupplerin in Szene 1 [Bourque: Blind Items: Anonymity, Notoriety, and the Making of Eighteenth-Century Celebrity, 116 ff.], und kennzeichnete die späteren Abzüge mit einem lateinischen Kreuz, das mittig unter dem jeweiligen Druck angebracht wurde.A Harlot’s Progress – die erste Bilderserie der "modern moral subjects"A Harlot’s Progress gehört zu den ersten so genannten "modern moral subjects" in Hogarths Œuvre, d.h. zu den "modernen Lebensbildern" mit moralisch-satirischen Untertönen. Es handelt sich dabei um ein neues Feld der Kunst, das Hogarth selbst zwischen dem Erhabenen und dem Grotesken angesiedelt sah [Burke: William Hogarth: The Analysis of Beauty, 212] und von dem er behauptete, dass es von anderen Künstlern vor ihm noch nie beschritten worden wäre (wobei er neben volkstümlichen italienischen und niederländischen Drucken [Kurz: "Italian Models of Hogarth’s Picture Stories"; Kunzle: The Early Comic Strip] sowie venezianischen Vorläuferserien [Smolderen: The Origins of Comics, 10-11, 14, 15] die holländisch-flämische Genre-Tradition eines Pieter Bruegel, Adriaen Brouwer, Adriaen van Ostade, David Teniers II, Jan Steen und Egbert van Heemskerck, die ihn ganz klar beeinflusst hat [Antal: Hogarth and his Place in European Art], verschwieg). Im Gegensatz zur traditionellen "sublimen" Kunst, die seiner Ansicht nach nur "abgedroschene", entweder der Bibel oder den "lächerlichen Geschichten der heidnisch-antiken Götterwelt" entlehnte Sujets bevorzugte, wollte sich Hogarth in seinen Bildern vorrangig den Charakteren, Sitten und Gebräuchen des eigenen Landes und seiner Zeit widmen, wobei auch der typisch englische Humor nicht zu kurz kommen sollte.Die Verwandtschaft der Szenen mit zeitgenössischen Bühnenstücken und satirischen RomanenSeine Stoffe behandelte der Künstler nach eigenen Angaben so, wie es die Schriftsteller tun (wobei er neben den Verfassern klassischer englischer Komödien und Dramen, etwa Shakespeare, auch die Volksbühne und vor allem die zeitgenössischen Satiriker und Novellisten, etwa Alexander Pope, Jonathan Swift, Henry Fielding und später Laurence Sterne im Auge hatte). Und er betrachtete sein Bild als Bühne und die dargestellten Männer und Frauen als Schauspieler, die – quasi in einer "polyzentrischen" Szenerie (Ogée) – mit ihren Handlungen und Gesichtsausdrücken ein "stummes Spiel" aufführen [Hogarth: "Autobiographical Notes", in: Burke: William Hogarth: The Analysis of Beauty, 209; Ogée: The Dumb show: Image and society in the works of William Hogarth, Introduction, 23-25].Zahlreiche ironische Details in jeder einzelnen Szene belegen, dass es Hogarth tatsächlich gelungen ist, in seinen "modern moral subjects" (zu denen auch weitere, später entstandene Bilder-Folgen, etwa A Rake’s Progress oder Marriage A-la-Mode, gehören), wie ein Komödienschreiber mit geistreichem Witz, ja oft sarkastischem Biss die alltäglichen Schwächen, absonderlichen Verhaltensweisen, Torheiten und Laster seiner Mitmenschen darzustellen. Die Erzählstrukturen seiner Bilder-Serien sind dabei mit den narrativen Strukturen zeitgenössischer englischer Romane vergleichbar – vor allem wegen der vielen Bezüge, die die Einzelbilder verknüpfen, wegen ihrer bildinternen satirischen Verweise (durch beschriebene Zettel, herumliegende bedeutungsträchtige Gegenstände, bestimmte Gemälde als Wandschmuck sowie durch Anspielungen auf biblische Stoffe, die christliche Ikonographie oder die Emblematik) und wegen des zur Verlebendigung beitragenden Mienen- und Gebärdenspiels der Protagonisten, welches Charles Le Bruns akademische Ausdruckstudien des Öfteren ad absurdum führt. All diese an Text-Bild-Beziehungen orientierten narrativen Strategien lassen sich bereits in den sechs Szenen der Serie A Harlot’s Progress nachweisen, wobei der Betrachter auch aufgefordert ist, die zwischen den einzelnen Bildern zweifelsohne vorhandenen Lücken im Handlungsstrang aktiv mit sinnvollem Inhalt zu füllen, da in sechs Bildern natürlich keine komplette Geschichte ohne Handlungsbrüche erzählt werden kann, selbst wenn sich Hogarth an etlichen Stellen bemüht hat, durch passende Motive und Details die einzelnen Bilder inhaltlich zu verzahnen [Kemp: "Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten"; Wagner: "Minding the Gaps"; Bartual: "William Hogarth's A Harlot's Progress"]. A Harlot’s Progress, Plate 1: Ankunft in LondonDie erste Szene zeigt als Hauptakteurin Elizabeth Needham, eine berüchtigte Londoner Kupplerin, die ein Bordell in Park Place, London, führte [Nichols: Biographical Anecdotes of William Hogarth, 189-191; Paulson: Hogarth, Volume 1, 252-253], hier jedoch – am Ankunftsort von Kutschen aus der Provinz – mit einem Fächer bewaffnet, wie er damals von Frauen für einschlägige Kontaktaufnahmen genutzt wurde [Krysmanski: Hogarth’s 'Enthusiasm Delineated', Band 1: 45-46 und 47, Anm. 100], und womöglich mit einer erotischen Taschenuhr ausgestattet auf frische Beute lauert. Vielleicht handelt es sich bei der teuren Uhr, die an ihrem Kleid oder Oberarm hängt und eher einem Gentleman als einer Frau zu gehören scheint, sogar um Diebesgut, das der Kupplerin von einer ihrer Huren ausgehändigt worden ist, denn im England des 18. Jahrhunderts war die Prostitution eng mit dem Ausrauben betrunkener Freier verknüpft.Die dunklen Punkte auf dem Gesicht von "Mother Needham", wie der Volksmund die stadtbekannte Puffmutter nannte, sind keine Muttermale (Naevi), sondern syphilitisch bedingt. Entweder verweisen die schwarzen Flecken auf die Geschlechtskrankheit selbst, oder aber es handelt sich um Schönheitspflästerchen, die unerwünschte Hautausschläge und die Spuren einer falschen ärztlichen Behandlung verdecken sollten [Lowe: "Hogarth, Beauty Spots, and sexually transmitted Diseases"; Deuters, "Black Spots and Carelessness: Syphilis and Societal Contagion in William Hogarth's Graphic Satire"]. Der Kupplerin ist die Schönheit der gerade in London eingetroffenen Unschuld vom Lande sofort aufgefallen, weshalb sie mit ihrer vom Handschuh befreiten rechten Hand die junge Frau taxiert und sogleich in Beschlag nimmt, um aus ihr eine Prostituierte zu machen – so ähnlich, wie es im Spectator Nr. 266 (4. Januar 1712) oder in John Gays Balladenoper Polly (1729) geschildert wurde [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 77; ders.: Hogarth, Volume 1, 238-240]. Die naive Maid trägt zwar als Zeichen ihrer Reinheit ein helles Kleid mit Halstuch, sittsam zusammengezogenem Schnürleib und unbefleckter Schürze und im Ausschnitt eine weiße Rose, aber ihr Nachname "Hackabout" steht zweideutig für "Herumhuren", weshalb die Rose ironisch auch als Attribut der Venus – und das heißt: als ein Hinweis auf die Göttin der Liebe und des erotischen Verlangens, also auf das künftige Schicksal des Mädchens als Liebesdienerin – verstanden werden kann. (Dass die Rose darüber hinaus auch auf die Rosenkriege zwischen den rivalisierenden englischen Adelshäusern York und Lancaster anspielen könnte, wie David Dabydeen glaubt [Dabydeen: Hogarth, Walpole and Commercial Britain, 97], ist wenig wahrscheinlich, auch wenn das Mädchen wohl gerade aus Yorkshire eingetroffen ist [s.u.] und die weiße Rose das Haus York symbolisiert.) Der Lüstling Colonel Francis Charteris, der damals für seine sexuellen Übergriffe auf junge Mädchen berüchtigt war und deswegen den Spitznamen "Rape-Master General of Britain" trug [Paulson: Hogarth, Volume 1, 241 ff.; Simpson: "Popular Perceptions of Rape"; Cruickshank: The Secret History of Georgian London, 311-321], lauert mit seinem ständigen Begleiter, dem Zuhälter John Gourlay [Nichols: Biographical Anecdotes of William Hogarth, 189], bereits weiter hinten in der Tür eines Wirtshauses auf das neue Opfer, das eine Schere und ein Nadelkissen mit sich führt, was darauf hindeutet, dass das Mädchen in der englischen Metropole eigentlich eine Anstellung als Näherin gesucht hat. Das Scherenmotiv besitzt allerdings auch eine sexuelle Komponente, weil es an die männlichen Genitalien erinnert [Santesso: "William Hogarth and the Tradition of Sexual Scissors", 505].
Das Wirtshausschild schräg über der Tür ziert eine Glocke, die nicht nur das Zeichen für "Bell Inn" ist (so hieß ein Gasthof in Wood Street, Cheapside, vor dem Kutschen hielten, die aus dem ländlichen Norden kamen), sondern auch für "Belle" steht (den französischen Begriff für eine schöne Frau) [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 78]. Die Glocke könnte aber auch auf eine typisch englische Art des Glockenläutens – nämlich das sog. Wechselläuten ("change ringing") – anspielen und folglich darauf, dass für das Mädchen "things are going to change" [Heyl: "Der Ort wo Betteley und Ueberfluß in einer Secunde die Stellen wechseln", 18]. Oder das Motiv gemahnt an die Sterbeglocke, die nach dem Tod der Maria erklang, und kündigt schon hier den späteren, allerdings unchristlichen Tod der Protagonistin in Szene 5 an, der durch den Kontakt mit der Kupplerin in Szene 1 gleichsam eingeläutet wird [Wehner: Die Pietà im Irrenhaus, 46]. |
Die tote Gans in der Korbtasche zwischen den anderen Gepäckstücken vorn rechts lässt schon hier das künftige Schicksal der "dummen Gans" erahnen, die im Begriff ist, sich der Kupplerin auszuliefern. Zudem gab es damals für Huren Begriffe wie "green goose" oder "Winchester goose" [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 78; Momberger: "Cinematic Techniques in William Hogarth’s A Harlot’s Progress", 57]. Die Gans wurde als Geschenk für "My Lofing Cosen in Tems Stret in London" mitgebracht, wie auf dem Zettel am Gänsehals steht. Die vielen Rechtschreibefehler machen deutlich, dass das Mädchen nicht sehr intelligent ist. (Das Phänomen der Legasthenie war damals noch unbekannt. Die von der Rechtschreibeschwäche Betroffenen wurden schlichtweg für dumm gehalten.) Der umkippende Eimerstapel spielt auf Marys bevorstehenden "Fall" an, könnte aber auch als Hinweis auf den halb erigierten Penis von Francis Charteris verstanden werden [Krysmanski: Hogarth’s Hidden Parts, 160], denn der Lüstling scheint sich mit seiner Hand in der Hosentasche gerade selbst zu stimulieren [Dabydeen: Hogarth’s Blacks, 109; Wagner: "Eroticism in Graphic Art: The Case of William Hogarth", 66].
Formal wird die gezeigte Szene durch die Mittelsenkrechte (eine gedachte gerade Linie, die – ausgehend von der Mitte des oberen Bildrandes – quasi an der Ecke der Hauswand entlang senkrecht durch den Bildmittelpunkt zum unteren Bildrand zieht) sehr geschickt in zwei gleich große, aber dennoch höchst unterschiedliche Bildhälften geteilt: a) in die linke Bildhälfte, in der das tugendhafte Leben stattfindet (denn dort befinden sich die in der Farbe der Unschuld weiß gekleideten Mädchen, der auf einem Schimmel [!] sitzende Pfarrer und die sich brav um die Wäsche kümmernde Dienstmagd) und b) in die rechte Bildhälfte, die dem Laster vorbehalten ist (in der sich die dunkler gewandete, syphilitische Kupplerin und der sich sexuell stimulierende Lüstling samt zugehörigem Zuhälter vor der düster wirkenden, bröckeligen Fassade des Wirtshauses aufhalten und in der die Gans im Korb an den bevorstehenden Tod gemahnt). Passend dazu bewegen sich im Zentrum des Bildes wohl nicht zufällig die Arme der Kupplerin aktiv auf die Seite der Tugend zu, um das naive Opfer in Empfang zu nehmen und zur Schattenseite des Prostituiertenmilieus zu ziehen. A Harlot’s Progress, Plate 2: Das süße Leben als KurtisaneIn der zweiten Szene hat die junge Frau als Dirne Karriere gemacht und ist zur Kurtisane eines reichen jüdischen Kaufmanns, vielleicht des Bankers Sampson Gideon [Dabydeen: Hogarth, Walpole and Commercial Britain, 111-112; Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 80], aufgestiegen – eine Liaison, die seinerzeit, zumal für eine Nichtjüdin, als anrüchig galt [Hinz et al.: William Hogarth, 83], über die aber in damaligen Schriften durchaus berichtet wurde. So erschien 1709 in Charles Gildons The Golden Spy: Or, a Political Journal of the British Nights Entertainments unter dem Titel "The Kept Miss" die Story eines reichen Kaufmanns, der nach einer geeigneten jungen Frau als "Lady of Pleasure" Ausschau hielt, ihr 100 Guineen, einen noch teureren Diamantring und weitere Geschenke spendierte, ja ihr sogar ein feines Domizil zur Verfügung stellte, aber von ihr ständig mit jungen Schauspielern, Tanzmeistern und Offizieren betrogen wurde, so dass er sich letztlich schweren Herzens von ihr trennte, wobei ihm ein alter Freund erst die wahren Interessen seiner Hure vor Augen führen musste [Hallett: The Spectacle of Difference, 104; ders.: Hogarth, 82-83]. An solche Berichte dürfte sich Hogarth sicher erinnert haben. Da aber in seiner Story die Wandlung von der naiven Unschuld zur erfahrenen Kurtisane recht schnell erfolgte, bezweifeln einige Interpreten, dass Mary in der ersten Szene wirklich so unerfahren war, wie wir bisher angenommen haben [Cowley: "How the dice are loaded: Determinism and freedom of will in the first picture of William Hogarth's A Harlot's Progress"].Dass der reiche Mann, der in A Harlot’s Progress, Plate 2, nach der Pfeife seiner Geliebten tanzt, Jude ist, wird durch einige stereotype Merkmale betont, die Hogarth – den damaligen antisemitischen Vorurteilen folgend – in seinem Bild betont: So seien laut David Solkin nicht nur die Nasenform, sondern auch der relativ dunkle Teint und das affenartige Äußere mit den betont buschigen Augenbrauen sowie die klauenartige Hand von Hogarth bewusst gewählt worden, um den schlechten, untermenschlichen, ja teuflischen Charakter eines "Christusmörders" zu betonen, dem es nicht so recht gelingen will, einen modischen englischen Gentleman zu imitieren [Solkin: "The excessive Jew in A Harlot’s Progress", 221-223]. Dass der Mann Jude ist, demonstrieren aber auch die zwei großen Gemälde an der Wand, die Szenen aus dem Alten Testament zeigen, nämlich einmal den mit Gott hadernden Jona und zum andern Usa, der beim Transport der Bundeslade verhindern wollte, dass diese vom Ochsenkarren rutscht, aber von einem Priester erstochen wird, weil er die Lade berührt hat und dieser Frevel mit dem Tode bestraft werden muss. Der vor der Lade tanzende und Harfe spielende König David scheint das Tötungsdelikt nicht bemerkt zu haben. Die beiden kleinen Bilder an der Wand sind Porträts der Freidenker und Deisten Thomas Woolston und Samuel Clarke. Für diese Herren, die schon damals den Wahrheitsgehalt biblischer Stories und etlicher kirchlicher Lehren anzweifelten, scheint sich die Kurtisane zu begeistern. Clarke etwa griff in seiner Scripture Doctrine of the Trinity (1712) die Lehre von der Heiligen Dreifaltigkeit an, und Woolston bezeichnete in seinen Six Discourses on the Miracles of Our Saviour (1727-1730) die seltsamen Wunder des Neuen Testaments – die Krankenheilungen und Totenerweckungen, die Dämonenaustreibung oder die Verwandlung von Wasser in Wein – lediglich als Allegorien und Gleichnisse, ja als bewusste Betrügereien, nicht aber als wahre Begebenheiten, weshalb man sie lächerlich machen dürfe. Die Story von der Auferstehung Christi war in seinen Augen der größte biblische Schwindel überhaupt [Lechler: Geschichte des englischen Deismus, 294-311; Paulson: The Beautiful, Novel, and Strange, 8-22] – zeitgenössische Ansichten, mit denen sich wohl auch Hogarth selbst anfreunden konnte, zumal er dem Deismus nahestand. |
Mary trägt ein prächtiges Kleid, hält sich einen mit Federturban exotisch ausstaffierten schwarzen Knaben als Diener [Dabydeen: Hogarth’s Blacks, 113-114] und – wie es damals zur Belustigung in höheren Kreisen Mode war (vgl. Hogarths Taste in High Life von 1742) – einen Affen, der den Hausherrn imitiert. Das Mahagoni-Tischchen [Edwards: "Hogarth's Tea-Tables"] und der vom Mohrenjungen in einer silbernen Teekanne servierte, aus chinesischen Porzellantassen konsumierte Tee deuten darauf hin, dass der Kaufmann in Übersee Geschäfte macht und sich besonders teuren Tee leisten kann. Die Hure, die sich als Herrin im Hause gebärdet, stößt gerade in kokett-aggressiver Attitüde den Teetisch um, wobei sie das teure Trinkgeschirr laut scheppernd zu Bruch gehen lässt. Buchstäblich werden hier Teetisch-Rituale, wie sie die vornehme englische Gesellschaft kannte, mit Füßen getreten [Retford: The Conversation Piece, 184; Del Rose, 'The Luxurious Fancies of Vice', 50-52]. Mary tut dies ganz bewusst, um ihren reichen "Sugardaddy" abzulenken, damit dieser ihre (laut Thomas Krämers Interpretation) lesbische Liebhaberin nicht bemerkt, die sich – als junger Mann verkleidet – weiter hinten neben einem Zimmermädchen und mit einem Degen und Gehstock unter dem Arm in weiblicher Manier auf Zehenspitzen aus dem Zimmer schleicht [Krämer: "Masquerades as No-Man’s Land"]. Die unschöne Schräglage des Teetischs mit seinen übertrieben geschwungenen Beinen und dem ungewöhnlichen Rokoko-Zierrahmen signalisiert dem Betrachter der Szene, dass die auf ähnliche Weise, doch streng frontal gerahmte alttestamentarisch-jüdische Welt des Hausherrn, die auf den zwei großen Gemälden an der Wand zu sehen ist, durch die Dirne arg in Unordnung geraten ist. Wohl nicht umsonst wird rechts am Bettvorhang bereits der Schattenriss eines Monsters sichtbar. A Harlot’s Progress, Plate 3: Die Hure wird in ihrem Schlafgemach verhaftetSchon recht bald muss zwischen Szene 2 und 3 Marys gesellschaftlicher Abstieg erfolgt sein. Im dritten Bild ist die Hure nämlich im Schlafzimmer einer heruntergekommenen Wohnung in Drury Lane, Covent Garden, zu sehen (wie aus der Inschrift auf einem der Krüge rechts vorn hervorgeht). Sie sitzt, die gestohlene Uhr eines Freiers oder auch eine erotische Uhr in der Hand haltend, auf einem Himmelbett und lässt sich von einer alten Zofe, deren Nase von der Syphilis halb zerfressen ist [Haslam: From Hogarth to Rowlandson, 92], zur Mittagszeit (laut Uhr ist es bereits Viertel vor zwölf!) das Frühstück servieren.Die beiden Frauen scheinen ironisch auf die barbusige Schönheit und ihre Begleiterin in Peter Lelys Gemälde The Concert (ca. 1650; Courtauld Gallery, London) anzuspielen [Krysmanski: Hogarth’s ‘Enthusiasm Delineated’, Band 1: 369; ders.: Hogarth’s Hidden Parts, 173, Anm. 529]. Für diese Annahme spricht vor allem der Gesichtsausdruck und die Haltung der rechten [vom Betrachter aus gesehen: linken] Hand der aus dem Bilde schauenden, barbrüstigen Frau. Bis heute weiß man nicht, was genau in Lelys Bild dargestellt ist [Campbell: Peter Lely: A Lyrical Vision, 78, 112-119]. Man vermutet, dass der Mann an der Viola da gamba der Maler selbst sein könnte. Doch seine Beziehung zur sich so freizügig präsentierenden Dame – wohl eine Kurtisane – bleibt unklar. Wenn Hogarth sich dieses Bild zum Vorbild für seine Szene nahm, dürfte er wohl gewusst haben, dass Lelys Gemälde, das womöglich an Jacob Cats’ Sinnbild Amor docet musicam oder an Rembrandts Musikstunde der Lüsternheit (1626; Rijksmuseum, Amsterdam) anknüpft, im rechten Bildteil eine Mätresse des 17. Jahrhunderts zeigt. Nur ist bei Hogarth vom idyllischen Sujet, das an die Tradition der ländlichen Konzerte eines Giorgone oder Tizian erinnert, nicht viel übrig geblieben, zumal sich seine Szene nicht mehr in einer bukolischen Landschaft, sondern in einem schäbigen Innenraum abspielt: Das Himmelbett mit seinem wuchtig geknoteten Vorhang, das – streng frontalperspektivisch ausgerichtet – als bildfüllendes, zentrales Rahmenmotiv gleichsam die beiden Frauengestalten bühnenartig umfängt, ist das nobelste Möbelstück im Raum und wohl noch ein Überbleibsel aus besseren Tagen. Ansonsten sehen wir links nur einen billigen Flechtstuhl, der den Nachttisch und die Garderobe ersetzt hat: An seiner Lehne hängt die Jacke der Hure, und auf seiner Sitzfläche steht als Leuchter-Ersatz eine Schnapsflasche mit darinsteckender Kerze sowie ein wohl mit Urin gefüllter Suppenteller, der Mary als Nachttopf diente. Das noble Tischchen aus Szene 2 ist einem klobigen Schemel gewichen, an dem jetzt der Tee aus billigen Gefäßen konsumiert wird. (Ob die einschenkende Zofe eine Temperantia verkörpert, die Wasser in eine Weinschale gießt, wie Michael Godby glaubt, und auch die Hure mit ihrer Uhr die Mäßigung repräsentiert, zu deren Attributen Zaumzeug und Uhr gehören [Godby: "The First Steps of Hogarth’s Harlot’s Progress", 30 ff.], mag dahingestellt bleiben.) Rechts fungiert eine werkbankähnliche Kommode als Toilettentisch. Auf ihr stehen einige Schmink-Utensilien und ein kaputtes Punschgefäß. Die Katze vor dem Bett lauert auf eine Maus, oder aber sie schaut Marys Freund und "Geschäftspartner" James Dalton hinterher, der sich unter dem Bett versteckt haben könnte [Krämer: "Zur Darstellung der Frau(en) in A Harlot’s Progress von William Hogarth"]. Zudem scheint diese Katze rollig zu sein [de Voogd: Henry Fielding and William Hogarth, 65], denn sie reckt einladend ihr Hinterteil hoch, wie es die Hure vor ihrer Kundschaft in der Nacht getan haben mag. Ein treffliches Motiv, denn Dirnen wurden seinerzeit vom Volksmund als "cats" bezeichnet [Paulson: "Hogarth’s Cat", 2, 4, 5; ders.: Hogarth’s Harlot, 289-93; Krysmanski: Hogarth’s Hidden Parts, 173-174]. Auf dem Schemel mit dem Frühstücksgeschirr liegt unbeachtet ein Hirtenbrief des Bischofs von London (damals Edmund Gibson) gegen die Deisten aus Szene 2. Das bischöfliche Schreiben, für dessen Inhalt sich weder die Hure noch ihre Zofe interessiert, wird ganz profan als Einwickelpapier für Butter zweckentfremdet [Wagner: Reading Iconotexts, 107-113]. Marys persönliche Helden prangen als Bilder an der Wand: der Straßenräuber und Frauenheld Macheath aus John Gays Beggar’s Opera (1728) und der aufrührerische Geistliche Henry Sacheverell, dessen Predigten gegen die Feinde der Kirche ihn zum Frauenschwarm machten, der aber auch Kontakte zu Prostituierten pflegte [Nicholson: "Sacheverell's Harlots"]. Direkt darüber stehen Mittel gegen Syphilis auf dem Fenstersims. Und links über dem Fenster hängt ein Bild, das in Anlehnung an ein Gemälde von Tizian zeigt, wie Abraham seinen Sohn Isaak opfern will [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 81]. Ein Hexenhut und eine Birkenrute zieren die Wandung des Himmelbetts, wobei die Rute so ausgerichtet ist, dass sie auf das Bild weiter oben zeigt. Dies könnten die Utensilien einer Domina sein, die – beim sexuellen Rollenspiel als Hexe verkleidet – ihre masochistische Kundschaft auf ähnliche Weise misshandelt wie Abraham seinen auf dem Opferstein in gebeugter Haltung gefesselten Sohn. Allerdings trugen auch Quäkerinnen damals derartige Hüte. Auch an sie könnte Hogarth daher mit seinem Nebenmotiv gedacht haben, wie Barry Wind glaubt, denn Quäkerinnen wurden in der zeitgenössischen Bildsatire, in populären Schriften und auf der englischen Volksbühne des Öfteren als lüstern dargestellt, ja mit Huren gleichgesetzt [Wind: "Hogarth's Fruitful Invention"].
Über dem Bett bewahrt Mary die Perückenschachtel des Straßenräubers James Dalton auf, der zwar am 11. Mai 1730 gehängt worden war, aber für den sie offenbar immer noch schwärmt, wenn nicht gar gemeint ist, dass der Kriminelle zum Zeitpunkt der Darstellung noch lebte. (Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass er der Vater des Sohns unserer Hure ist, der später in Szene 5 als vielleicht vierjähriges Kind erstmalig auftaucht [s.u.], was darauf hindeutet, dass die laut Sarg-Inschrift im Alter von 23 verstorbene Mary von Dalton bereits mit 18 Jahren geschwängert worden sein müsste.) Die Komposition ähnelt einer Verkündigung des Herrn, wie sie bei Lukas 1, Vers 26-38, geschildert wird, wobei Gonson den Engel Gabriel vertritt, welcher der Jungfrau Maria verkündet, dass sie den Sohn Gottes vom Heiligen Geist empfangen wird [Paulson: Hogarth, Volume 1, 273; ders.: Hogarth’s Harlot, 28; Busch: Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip, 8]. Der Zeigefinger, den Gonson zum Mund führt, erinnert an die Handbewegung des Engels der Verkündigung. Die dreieckige Spiegelscherbe, die rechts an der beschädigten Punsch-Schüssel (einem Deflorationssymbol?) lehnt, könnte darüber hinaus den Erfolg der Heiligen Dreifaltigkeit widerspiegeln, wie auch der helle Zipfel des Bettvorhangs, der auf den Kopf der Dirne zielt, auf das zum klassischen Verkündigungstypus gehörende, von Gott gesandte Strahlenbündel anspielen dürfte [Krysmanski: Hogarth’s ‘Enthusiasm Delineated’, Band 1: 368]. Noch weiter treibt Alexander S. Gourlay die ikonographischen Deutungen: Er sieht in A Harlot’s Progress, Plate 3, sogar einen Zusammenhang zwischen der leeren Perückenschachtel über dem Himmelbett, aus der Daltons Perücke auf der breiten Stoffbahn des hinteren Bettvorhangs gleichsam zur Hure herabzugleiten scheint, und dem in Dürers Verkündigung (1503) an vergleichbarer Stelle am Himmel schwebenden und für die Aussendung des Heiligen Geistes verantwortlichen Gottvater. Des Weiteren nimmt Gourlay an, dass in Hogarths Bild der so auffällige dicke Knoten im Bettvorhang auf jene Vorhang-Säcke anspielt, die in traditionellen Verkündigungsszenen für den fleischgewordenen Gottessohn stehen [Gourlay: "On Allusion, Narrative, and Annunciation", 83]. A Harlot’s Progress, Plate 4: Die Hure beim Hanfklopfen im ArbeitshausIm vierten Bild ist die Hure im Bridewell-Gefängnis, Tothill Fields, angekommen, wohin aufgegriffene Prostituierte gebracht wurden, denn die Prostitution war in England im 18. Jahrhundert (und auch noch in späterer Zeit) illegal und strafbar. Regelmäßig wurden daher Huren jeden Alters und jeder Hautfarbe, die man bei ihrem Treiben ertappte, von den Ordnungshütern festgenommen und zum Strafdienst in eine Besserungsanstalt eingeliefert. In Szene 3 hat es auch Mary erwischt. Nun, in Szene 4, muss sie, immer noch schick gekleidet, zur Strafe auf hölzernen Hackstöcken Hanf schlagen, der für Galgenstricke verwendet wird, die im Korb rechts oben gesammelt werden. Sie tut dies zusammen mit anderen Prostituierten und weiteren Häftlingen, unter ihnen ein männlicher Spieler (erkennbar an der am Boden liegenden, zerrissenen Spielkarte, die von einem Hund beäugt wird), ein Kind vom Straßenstrich, eine junge Frau, die womöglich am Down-Syndrom leidet, und eine schwangere Schwarze [Dabydeen: Hogarth’s Blacks, 106-108, 110, 112-113, 117, 121].Aus heutiger Sicht besonders traurig ist dabei, dass Kinder, die man zur Prostitution zwang, nicht anders als erwachsene Huren behandelt wurden. Für Georg Christoph Lichtenberg ist das in A Harlot’s Progress, Plate 4, dargestellte minderjährige Mädchen der "erbarmungswürdigste Gegenstand auf diesem Blatt. Kaum in die Zehne getreten, ist es schon unter diesem Dach und büßt für Verbrechen, wovon es keinen Begriff hatte, und wovon man ihm bloß die Begehungs-Formen einpeitschte, wie dem Pudelhund seine Kunststücke. Wer […] nach London kömmt, dem muß das Herz bluten, wenn er an einem Abend sich von solchen Geschöpfen von zwölf, dreizehn Jahren, herausgekleidet wie Balletschäferinnen, angefaßt und mit theatralisch-zärtlichen Umarmungen aufgehalten sieht. Es geht über alle Vorstellung. Sie sprechen mit kindlich-liebreichen Stimmchen und einer Volubilität die offenbar von Auswendiglernen zeugt, über Dinge, wovon sie sicherlich kein Wort verstehen. Man würde sie daher fast für Konfirmanden halten, wenn alles dieses nicht aus einem Katechismus hergesagt würde, dergleichen nur Charter[i]s oder der Teufel verfassen kann. Es ist himmelschreiend. Das arme Mägdchen hat etwas Gutes in seiner Physiognomie, und der Eifer, womit es seinen Hanf klopft, zeugt von Bereitwilligkeit jeder Instruktion zu folgen. Gerechter Himmel! Wenn dieses Kind das Zuchthaus verdient, welche Strafe verdienen die, deren Unterricht ihre Unschuld vor der Zeit der Überlegung und ihre Jugend noch vor der Blüte so vergiftet haben?" [Lichtenberg: Schriften und Briefe, Band III: 782-783].Kein Zweifel: Hogarth verweist mit seinem Nebenmotiv auf die harte Realität der Kinderprostitution in der englischen Metropole – Lebensumstände, mit denen unsere erwachsene Hure aktuell nichts mehr zu tun hat. In ihrer noblen Aufmachung scheint sie dennoch in Bridewell fehl am Platze zu sein. Eine Frau hinter Mary zupft augenzwinkernd an der Kleidung der Schönen, die ganz und gar nicht zur harten Arbeit passen will. Allerdings gab es am 14. September 1730 im Grub Street Journal einen Bericht über eine Bordell-Wirtin namens Mary Moffat oder Muffet (alias Moll Freeman oder Talboy), die beim Hanfklopfen in Bridewell ein kostbares Gewand trug [Nichols: Biographical Anecdotes of William Hogarth, 194-195; Moore: Hogarth’s Literary Relationships, 27; Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 81; Rictor Norton: The Georgian Underworld]. Womöglich wurde Hogarths Darstellung und auch der Vorname seiner Dirne durch diese Zeitungsmeldung inspiriert. Jedenfalls droht der Gefängnisaufseher, der links in A Harlot’s Progress, Plate 4, seinen Stock erhoben hat, der elegant gekleideten Hure, den großen runden Holzhammer, den man auch "Bläuel" nannte, ja mit der nötigen Einstellung zu gebrauchen. Dieser "Folter-Knecht", der eine helle Arbeitsschürze (oder gar einen Freimaurerschurz? [Soulier-Détis: "Guess at the Rest", 55-57]) trägt und den Henry Fielding in Tom Jones mit dem Hauslehrer Roger Thwackum verglich [Fielding: Sämtliche Romane, Band II: 129], wird von Lichtenberg als "schräger Ochsenziemer" oder Hüter einer hanfklopfenden Schweineherde beschrieben [Lichtenberg: Schriften und Briefe, Band III: 778-779; von Arburg: Kunst-Wissenschaft um 1800, 124-126], wirkt aber mit seinem turbanähnlichen Hut eher wie ein orientalischer Haremswächter. Elisabeth Soulier-Détis fiel die Ähnlichkeit dieser ungewöhnlichen Kopfbedeckung mit dem Hut von John Huggins (1655-1745) auf, den Hogarth ca. 1740-44 porträtiert hat und dessen Sohn William mit dem Künstler befreundet war [Soulier-Détis: "Guess at the Rest", 56-57; Bindman: Hogarth, 50-51, 52; Einberg: William Hogarth: A Complete Catalogue of the Paintings, 215-217, Nr. 133]. Als unnachgiebiger Direktor des Londoner Schuldgefängnisses (Fleet Prison) war Huggins vermutlich nicht ganz unbeteiligt an der seinerzeit gängigen Praxis, von den Häftlingen und ihren Angehörigen als Gegenleistung für bessere Haftbedingungen Geld zu erpressen. Ronald Paulson vergleicht Marys Pose und die ihrer Begleitpersonen mit dem Figurenarrangement in Dürers Geißelung Christi aus der Albertina-Passion [Paulson: Hogarth’s Harlot, 28, 45]. Zu dieser Deutung passt auch der Schandpfahl an der Wand, der die Mittelachse des Bildes markiert und dessen Aufschrift darauf hinweist, dass hier diejenigen Häftlinge angekettet werden, die beim Hanfklopfen nicht fleißig genug waren. Dieser Pfahl könnte satirisch auf die Martersäule anspielen, an die Christus während der Geißelung gefesselt ist. Das Interieur der gesamten Szene mit der schräg nach hinten fluchtenden Perspektive erinnert entfernt aber auch an eine Bruegelsche Bauernhochzeit in einer Scheune. Weder zu dem einen noch zu dem anderen Szenario würde jedoch die herausgeputzte Dirne aus Hogarths Stich passen. |
Vorn rechts im Bild pausieren zwei Frauen. Die eine von ihnen, Marys syphilitische Zofe, zieht sich die löchrigen Strümpfe zurecht, trägt offenbar die modischen Schuhe ihrer Herrin und scheint sich darüber zu freuen, dass die fein gekleidete Hure auch mal hart arbeiten muss; die andere Frau knackt eine Laus. Eine arbeitsscheue Person, deren Hände in einem hölzernen Block arretiert sind, steht am Pranger. Auf dem Block ist zu lesen: "Better to Work / than Stand thus." Auf die Tür im Hintergrund wurde ein Galgenmännchen gezeichnet, über dem die Initialen "S.J.G." stehen (für Sir John Gonson, der ja als der für die Festnahmen und Strafen zuständige Richter nicht sehr beliebt bei den Insassen des Bridewell-Gefängnisses war). A Harlot’s Progress, Plate 5: Die Hure stirbt in ihrer schäbigen UnterkunftVon Quacksalbern falsch behandelt, stirbt Mary, in ein Bettlaken oder bereits in ein Leichentuch gehüllt, in Szene 5 in einer besonders schäbigen Unterkunft auf einem Stuhl sitzend an ihrer Geschlechtskrankheit. Den schlechten Zustand ihrer jetzigen Behausung verdeutlicht der fehlende Putz, der an etlichen Stellen von der Wand abgebröckelt ist und die nackten Mauerziegel sichtbar werden lässt. Die schrägen Linien der Übereckperspektive wie auch die vielen anderen, in alle möglichen Raumrichtungen weisenden Umrisslinien der spärlichen Einrichtungsgegenstände unterstreichen die ungeordneten Verhältnisse, in denen die Hure kurz vor ihrem Ableben hausen musste. An die besseren Zeiten bei ihrem jüdischen Liebhaber erinnert nur noch die runde, helle, gepunktete Scheibe, die hoch oben neben der Tür hängt und meist als Matze oder "Judenkuchen" interpretiert wird. Ein solches "Jew’s bread" konnte auch als Fliegenfalle verwendet werden [Paulson: Hogarth’s Graphic Works, 82; Wagner: Reading Iconotexts, 167].Die letzten verbliebenen Reste der Unterwäsche der Sterbenden hängen an einer an einem Deckenbalken befestigten Leine direkt über ihr. Die zwei Ärmel des Nacht- oder Unterhemds (Chemise) scheinen dabei wie mit unsichtbaren Geisterhänden nach der in den letzten Zügen liegenden Dirne zu greifen, um sie ins Jenseits zu ziehen. Die weißen Handschuhe, die mit an der Leine hängen, wirken – dazu passend – wie Hände, die von den Unterarmen abgetrennt wurden. Die vielen Tinkturen in den Gefäßen auf dem Kaminsims haben gegen die todbringende Syphilis nichts ausrichten können. Im Gegenteil: Mehrere Zähne, die der Hure offenbar wegen einer Quecksilbervergiftung durch die damals üblichen Anti-Syphilis-Präparate ausgefallen sind [Haslam: From Hogarth to Rowlandson, 96-97], liegen auf einem Rezeptzettel neben einigen anderen Gebrauchsgegenständen rechts vorn auf einem als Ablage dienenden, an eine Kleinkommode erinnernden, trommelförmigen Toilettenstuhl (engl. "close stool") [Niehaus, " '… daß es überhaupt keine ganz verächtliche Stuhl-Gattung gebe in der Welt' ", 52-54].
Zwei bekannte Londoner Ärzte, Dr. Richard Rock, der mit dunkler, altmodischer Allongeperücke auf dem Kopf und mit einem Stock in der Hand auf seinem Stuhl sitzt, und Dr. Jean Misaubin, der eine kürzere weiße Perücke trägt und von seinem Stuhl aufgesprungen ist, streiten vergeblich über ihre medizinischen Methoden und die unnützen Mittelchen, die sie in ihren Händen halten [Foster: "William Hogarth and the Doctors", 356-358; Haslam: From Hogarth to Rowlandson, 93-96]. Während ihres heftigen Disputs haben sie einen als Tisch-Ersatz dienenden Schemel mit den darauf befindlichen Gegenständen umgestoßen, die nun am Boden liegen: ein kaputtes Tintenfässchen mit Schreibfeder, ein zerbrochener Teller, ein Löffel sowie eine medizinische Anleitung zur Anwendung schmerzlindernder Halsbänder, wie sie damals in Zeitungsannoncen angepriesen wurden. Marys Zofe, die sich als einzige um die Sterbende kümmert, streckt erschrocken vor so viel ärztlichem Unverstand abwehrend ihren Arm aus.
Einige Bilddetails können ihre enge Verwandtschaft mit dem "niedrigen" Bauerngenre eines Adriaen van Ostade, etwa seiner Radierung Der Tanz im Wirtshaus (1650/55), nicht verleugnen. Man vergleiche nur die Kiste mit den Kleidungsstücken, die Wäsche oben an der Leine, die primitive Balkendecke, den vorn umgestürzten Schemel oder die Körperhaltungen einiger Akteure. Die beschriebenen Motivanleihen waren sicher pure Absicht, um das niedrige soziale Milieu zu unterstreichen, in dem die Hure am Ende ihres kurzen Lebens ihr Dasein fristen musste. A Harlot’s Progress, Plate 6: Die Trauerfeier, bei der kaum jemand trauertDas letzte Bild zeigt etliche Vertreterinnen des ältesten Gewerbes der Welt, die sich zur Trauerfeier im Hause des Leichenbestatters um Marys Sarg versammelt haben und dort auf den Leichenwagen warten. Ein Hinweis auf dem Sargdeckel besagt, dass sie am 2. September 1731 im zarten Alter von 23 Jahren gestorben ist. (Lichtenberg liest "3. September" und spekuliert darüber, ob das Datum nicht an den Großen Brand von London des Jahres 1666 erinnern könnte [Lichtenberg: Schriften und Briefe, Band III: 805-806, Anm.].)Der "Undertaker" allerdings waltet rechts nicht seines eigentlichen Amtes, sondern passt einer Dirne in sexueller Absicht einen Beerdigungshandschuh an. Weitere Handschuhe und der Handschuhspanner auf dem Hocker vor ihm weisen ihn als Handschuh-Fetischisten aus. Die Dirne, die sich der Erregung dieses Mannes bewusst ist, zieht schon einmal vorsorglich ein Taschentuch aus seiner Rocktasche. Nach Jeremy Bell könnte es sich bei ihm um ein Selbstporträt von Hogarth handeln [Bell: "The Freemason’s harlot", 42; ders.: William Hogarth: A Freemason’s Harlot, 34, 35]. Trifft diese Deutung zu, dann hätte sich der Künstler hier selbstironisch als eine dem Prostituierten-Milieu sehr verbundene, promiske Persönlichkeit geoutet.
In ähnlich "eindeutiger" Absicht hat der Pfarrer links – ein stadtbekannter "Gesindel-Kopulator", der im Fleet-Prison illegale Eheschließungen vornahm [Nichols: Biographical Anecdotes of William Hogarth, 202; Lichtenberg: Schriften und Briefe, Band III: 813] – entweder seine Hand unter den Rock von Elizabeth Adams, der jungen Hure neben ihm, geschoben, oder aber er stimuliert sich gerade selbst, wobei der Hut mit Trauerschleife seine Erektion verdeckt und er vielsagend Schnaps aus dem Glas in der sichtbaren Hand in ein Taschentuch vergießt. Die beiden spielen ironisch auf ein Liebespärchen aus Peter de Angellis’ Tischgesellschaft von 1719 an [Hallett: The Spectacle of Difference, 108]. Elizabeth Adams (die übrigens 1737 im Alter von 30 Jahren wegen Diebstahls zum Tode verurteilt wurde [Nichols: Biographical Anecdotes of William Hogarth, 194]) hält obendrein einen Zweig Rosmarin in der Hand, der traditionell als Infektionsschutz galt [Ireland: Hogarth Illustrated, Band I: 22]. Die Pflanze hat aber auch eine Bedeutung im Leben Marias ("Rose of Mary"). Ein Teller mit Nachschub an Rosmarin steht zu Füßen des Geistlichen am Boden parat. Der Sohn der Verstorbenen sitzt in unpassender Erwachsenenkleidung als "chief-mourner" (Trauer-Chef oder Chef des Leichenzugs) vor dem Sarg und spielt mit einem hölzernen Wurfkreisel, einem damals sehr beliebten Kinderspielzeug, dessen Schnur wieder aufgewickelt werden muss. Die weinende Dirne hinter dem Sarg betrauert nicht etwa den Tod Marys, sondern die offenbar syphilitisch bedingten, nicht nur im Genitalbereich auftretenden Geschwüre des "harten Schanker" (Ulcus durum) oder die für das zweite Syphilisstadium charakteristischen, nässenden, warzenartigen Hautveränderungen (Condylomata lata) an einem Finger ihrer Hand, die sie von einer vollschlanken Kollegin untersuchen lässt. Eine eitle Prostituierte schaut nebenan zufrieden in das Spieglein an der Wand. Die syphilitische Wunde auf ihrer Stirn scheint sie nicht zu stören. |
Weil in A Harlot’s Progress, Plate 6, genau zwölf erwachsene Personen halbkreisförmig um den Sarg herum gruppiert sind, könnte die Szene ikonographisch auf eine Himmelfahrt Mariä oder die Ausgießung des Heiligen Geistes anspielen, zumal der Pfarrer links gerade den Inhalt seines Schnapsglases vergießt [Busch: Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip, 8]. Wenn man den Jungen vor dem Sarg hinzurechnet, kommt man jedoch auf insgesamt dreizehn Personen, was besser zu einer Abendmahlsdarstellung (mit anwesendem Judas) passt. Daher könnte Paulson richtig liegen, wenn er auch Albrecht Dürers Abendmahl für ein mögliches Vorbild hält, wofür sowohl in Hogarths als auch in Dürers Darstellung besonders der Teller am Boden spricht [Paulson: Hogarth’s Harlot, 45].
Die einzige Person, die in Hogarths Bild wirklich trauert, ist die Kupplerin vorne rechts. Es soll sich bei ihr um "Mother Bentley", eine stadtbekannte Puffmutter, handeln [Nichols: Biographical Anecdotes of William Hogarth, 194; Bourque: Blind Items: Anonymity, Notoriety, and the Making of Eighteenth-Century Celebrity, 144-146], die hier den Verlust eines ihrer Girls beklagt. (Jeremy Bells Ansicht, dass Hogarth mit dieser Figur den Freimaurer, Wissenschaftler und Geistlichen John Theophilus Desaguliers als Transvestiten dargestellt hat [Bell: "The Freemason’s harlot", 48, 49; ders.: William Hogarth: A Freemason’s Harlot, 30-31, 198], ist dagegen durch nichts begründet.) Nebenmotive wie die Siegelflasche mit dem hochprozentigen Inhalt vor ihr – die Aufschrift "Nants" unter dem fratzenhaft grinsenden Siegel der Flasche (für Nantes, über dessen Hafen an der Loire-Mündung im 18. Jahrhundert große Mengen an Spirituosen nach Großbritannien exportiert wurden) verweist auf französischen Likör [Lichtenberg: Schriften und Briefe, Band III: 807], Obstbrand (Eau de vie) oder Branntwein – und das Wappen an der hinteren Wand mit seinen drei Zapfhähnen lassen erahnen, worum es den Anwesenden vorrangig geht: ums Saufen und um die höchst einträgliche Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse der männlichen Kundschaft, die auch nach Marys Ableben dank der Aktivitäten der vielen Huren in London ihre Fortsetzung finden wird. Was von der Persönlichkeit der Verstorbenen sichtbar übrig blieb, ist der Hut aus Szene 1, der hier im letzten Bild unbeachtet an der Wand hängt. Sarkastischer lässt sich die sechsteilige Bilderserie kaum abschließen. Bibliographie
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Dieser Online-Essay wurde exklusiv für The Site for Research on William Hogarth geschrieben.
Bevorzugte Zitierweise: Bernd Krysmanski, "A Harlot’s Progress von William Hogarth: Aufstieg und Fall einer Hure. Der Forschungsstand für deutsche Leser" (September 2016), The Site for Research on William Hogarth. Updated September 2024. <http://www.william-hogarth.de/HarlotsProgress.html> |
Autor: Bernd Krysmanski
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Letzte Änderung: 5. September 2024