Institut für Biologie II    RWTH AACHEN

Vorlesung: Morphologie der Tiere, WS 2001/2002


Morphologie der Tiere

4. Doppelstunde

Einführung in die Bilateria (bzw. Coelomata), Placozoa

 

Die Mehrzahl der Tierstämme gehört zu den sogenannten Bilateria (lat. bi = zweifach, doppelt; latus = die Seite).

Die Kennzeichen der Bilateria sind:

Bilateralsymmetrie (mit klar definierten Körperachsen: rechts – links, oben - unten, vorn – hinten)

Bewegung mit Muskeln (nur Larven u. besonders kleine Formen nutzen ganz oder teilweise ciliäre Fortbewegung)

Cephalisation (von gr. kephale = Kopf; Anhäufung von Sinnesorganen am vorderen Ende, was auch eine starke Entwicklung d. Nervensystems an diesem Ende zur Folge hat)

Darmkanal (im Allgemeinen ein durchgehendes Darmrohr mit Mund am Vorderende und After am Hinterende)

Triploblastische Embryonalentwicklung (neben Ecto- und Entoderm gibt es ein drittes Keimblatt, das Mesoderm)

Coelome (das Mesoderm umschließt Hohlräume, die Coelome genannt werden)

Kompartimentierung (der Körper ist oft in mehr oder weniger gleichartige Segmente untergliedert; zumeist gibt es spezielle Organe f. bestimmte Aufgaben)

Erläuterungen hierzu:

Bilateralsymmetrie heißt, dass beide Hälften des Körpers symmetrisch zu einer sog. Sagittalebene liegen (lat. sagitta = Pfeil). Außerdem kann man eindeutig eine Dorsalseite u. eine Ventralseite (lat. dorsum = Rücken, venter = Bauch) unterscheiden. Die Ventralseite ist dem Substrat zugewandt, die Dorsalseite zeigt in die umgekehrte Richtung. Schließlich gibt es ein anteriores (Vorderende) und ein posteriores Ende (Hinterende) des Körpers. Die anteriore Richtung entspricht gleichzeitig der bevorzugten Bewegungsrichtung der Tiere.

Ausnahmen von der perfekten Bilateralsymmetrie gibt es jedoch häufiger. So liegen die inneren Organe bei vielen Wirbeltieren oft asymmetrisch (Stichwort: Das Herz sitzt links). Durch die Torsion ihrer Gehäuse nehmen auch die inneren Organe v. Schnecken eine sehr unsymmetrische Lage ein. In manchen Tierstämmen sind Tiere sekundär zu sessiler Lebensweise zurückgekehrt. Dabei ist oft ein Übergang zu (zumeist nur) partieller Radiärsymmetrie zu beobachten (Annelida, Echinodermata).

Die Muskulatur ist ursprünglich wahrscheinlich nur aus Längs- (innen) und Ringmuskeln (außen) aufgebaut. Dazu gibt es oft noch dorso-ventrale Muskulatur und bei einigen Formen diagonale, spiralige Muskelbänder. Schließlich gibt es dann noch spezielle Muskeln wie z. B. die der Extremitäten.

Mit der Bewegungsrichtung und der Koordination der Muskulatur geht einher, dass Nervensysteme sich immer mehr zu longitudinal angeordneten Strängen verändern. Große Konzentrationen von Nervenzellen gibt es am Vorderende, denn hier sind auch die meisten Sinnesorgane konzentriert (z. B. Augen, Fühler, Riechorgane). Diese starke Konzentration von Sinnes- u. Nervenzellen am Vorderende wird als Cephalisation (Entwicklung eines Kopfes) bezeichnet.

Am Kopf liegt meist auch die Öffnung des Vorderdarms als Eingang in den Darmkanal. Dieser hat, im Gegensatz zu den Cnidaria, nun zumeist zwei Öffnungen (Mund und After). Die Nahrung kann nun sozusagen wie am Fließband aufgeschlossen werden. Einzelne Abschnitte des Darmkanals werden für spezielle Aufgaben umgebaut (z. B. Magen, Dünndarm, Dickdarm). Ausstülpungen des Darmes können zu Verdauungsdrüsen umgebaut sein.

 

Mesoderm und Coelom - zwei wichtige Begriffe der vergleichenden Morphologie und Embryologie:

Die meisten bilateralen Tiere haben gut entwickelte innere Organe. Diese entstehen während der Embryonalentwicklung zu großen Teilen aus den Derivaten eines dritten Epithelverbands, dem Mesoderm (= drittes Keimblatt). Daher kommt auch der Begriff triploblastisch im Gegensatz zu diploblastisch (nur Ecto- und Entoderm bei den Cnidaria). Das Mesoderm entsteht während der Embryonalentwicklung in der Phase der Gastrulation, ein Vorgang bei dem die ursprüngliche Blastula generell umstrukturiert und regionalisiert wird. Am Ende der Gastrulation stehen die drei Keimblätter Ectoderm, Entoderm und dazwischen Mesoderm, aus denen sich dann die diversen Organe formen.

Man nimmt an, dass die ursprüngliche Funktion des Mesoderms die Bildung flüssigkeitsgefüllter Hohlräume war, die als Hydroskelett dienten. Die Hohlräume nennt man Coelome (von gr. koilos = hohl), die sie umschließenden Epithelien Mesothelien (manchmal auch Coelomothelien). Interessanterweise bestehen Mesothelien in ihrer ursprünglichen Form aus Epithelmuskelzellen, wie man sie von den Nesseltieren kennt (z. B. bei Annelida, Hemichordata).

Generell sind Coelomräume paarig angeordnet und in Längsrichtung unterteilt. Die Epithelien, die diese Coelomräume umschließen, stoßen in der Mitte (Sagittalebene) und an den Segmentgrenzen aneinander und formen auf diese Weise sogenannte Mesenterien und Dissepimente (auch Septen genannt, siehe Abbildungen im Skript). Manche Tiere haben, zumindest larval, drei Paar Coelomhöhlen (Proto-, Meso- und Metacoel).

Große Wirbeltiere haben als Wand des Coeloms (Viszeral, Herz- und Lungenräume) ein sogenanntes Peritoneum, ein einschichtiges Epithel mit einer darunterliegenden Muskel- und Bindegewebsschicht. In manchen Lehrbüchern werden die Wandungen des Coeloms fälschlicherweise als Peritoneum beschrieben, bzw. Coelom so definiert. Invertebraten fehlt diese Anordnung eines stratifizierten Peritoneums (stratifiziert: aus mehereren Schichten bestehend).

Eine generelle Definition von Coelom sollte daher sein: Jeder Hohlraum, der von Epithelien umgeben ist, die mesodermalen Ursprungs sind.

 

Segmente, Kompartimente, Module:

Evolutionär offenbar sehr erfolgreich war die fortschreitende Kompartimentierung des Körpers in Module wie z. B. Organe und/oder Segmente. Deutlich wird die Spezialisierung von Segmenten z. B. schon bei einigen Annelida, ihren Höhepunkt erreicht sie bei den Arthropoda. Vielleicht ist dieser Tierstamm deshalb der erfolgreichste auf der Erde, weil hier die Natur die Modultechnik schon lange bevor der Mensch auf diese Idee kam perfektioniert hat.

 

Wie stehen die Bilateria im Zusammenhang mit den bisher behandelten Tierstämmen, den Porifera u. den Cnidaria?

Die Entstehung der verschiedenen Tierstämme im Lauf der Stammesgeschichte ist eines der großen ungelösten Rätsel der zoologischen Wissenschaften. Bisher sind keine Fossilien gefunden worden, die die frühe Evolution der Metazoa erhellen könnten. In der Fossilgeschichte tauchen Vertreter der meisten Tierstämme schlagartig auf. Diese Fossilien stammen aus dem Erdzeitalter, das man Kambrium nennt, und haben ein Alter von ca. 544 Millionen Jahren. Ältere Fossilien gibt es nur wenige (z. B. die Ediacara-Fauna) und diese sind zudem schwer zu interpretieren. Da Fossilien der verschiedenen Tierstämme in zahlreichen Lagerstätten plötzlich auftauchen, spricht man auch von der Kambrischen Explosion.

 

Kann die Entwicklungsbiologie Hinweise auf die mögliche Entstehung der Metazoa, insbesondere der Bilateria geben?

Ernst Haeckel (1834-1919), ein berühmter Zoologe, hat das sogenannte Biogenetische Gesetz aufgestellt, nach dem angeblich die Ontogenese (Entwicklung d. Einzelwesens, Embryonalentwicklung) die Phylogenese (Stammesgeschichte) wiederholt. Von Haeckel stammt auch die Gastraea-Theorie (1874), die sich mit der Stammesgeschichte der Metazoa befasst und deren Grundideen auch heute noch in abgewandelter und erweiterter Form aktuell sind:

Eventuell haben frühe Mehrzeller wie eine epithelumschlossene Blastula ausgesehen. Vorteil dieser Organisation: Es kann ein Innenraum eingeschlossen werden, der z. B. als Nahrungsspeicher oder als Brutkammer genutzt werden kann. Die mehrzellige Kugelalge Volvox bietet ein rezentes Beispiel.

Als nächste Stufe könnte eine Blastula entstanden sein, die nicht mehr freischwimmend war, sondern sich kriechend auf dem Substrat bewegt hat, von Haeckel Gastraea genannt. Hierbei könnte es sinnvoll gewesen sein, den Körper abzuflachen und Ober- und Unterseite für verschiedene Aufgaben zu spezialisieren. Nahrung könnte z. B. in vorübergehend geformte Hohlräume zwischen Substrat und Unterseite eingebettet worden sein. Dies war vielleicht der Anfang zur Evolution einer zweischichtigen Organisation und der Entstehung eines Gastralraumes (Entoderm weist zum Substrat hin und übernimmt u. a. Verdauungsfunktion, Ektoderm weist nach außen, bzw. oben). Schließlich kam dann eine dritte Schicht dazu, die zunächst die Funktion von Binde- bzw. Stützgewebe (Skelett) hatte, die aber später darüberhinaus das Stammgewebe für die mit zunehmender Größe notwendigen Organe (Muskeln, Knochen, Exkretionsorgane etc.) bereitgestellt hat. In seiner einfachsten Form sehen wir ein solches Stützgewebe, teilweise sogar mit Stammzellen durchsetzt, im Mesohyl der Porifera und der Mesogloea der Cnidaria.

 

Placozoa - rezente Lebewesen, deren Bauplan in etwa einer solchen Gastraea entspricht

Trichoplax adhaerens ist ein Organismus, der in etwa einer solchen Gastraea ähnelt. Er wurde 1883 im Grazer Zoologischen Institut entdeckt, in Seewasser, das aus Triest stammte. Das Tierchen hat ca. 2 mm Durchmesser und ähnelt einer abgeflachten Blastula, deren Innenraum aber von einem lockeren Verband sogenannter Faserzellen ausgefüllt ist (Bindegewebe, Mesenchym). Diese Faserzellen sind untereinander verbunden und kontraktil. Trichoplax adhaerens hat keine bevorzugte Bewegungsrichtung wie sie Haeckel für die gastraea bilateralis repens als Vorläufer der Bilateria gefordert hat. Trichoplax adhaerens kann Eizellen entwickeln, die dann in der Zwischenschicht entstehen (Nutzung des Hohlraums in der oben angesprochenen Weise).

Trichoplax hat einige Metazoenmerkmale, andere aber nicht: Es gibt z. B. angeblich keine extrazelluläre Matrix, aber es gibt Kontaktstrukturen zwischen den Zellen, die man aus den Epithelien der Eumetazoa kennt (Zonula adhaerens, adhesion belt, Banddesmosom). Trichoplax hat nur 6 unterschiedliche Zelltypen (zum Vergleich: Caenorhabditis (ein Fadenwurm): 15-20, Porifera: bis 30, höhere Invertebraten wie Cephalopoden (Tintenfische), Crustaceen (Krebstiere) und Insekten: bis 50, Primaten mindestens 200). Damit korreliert, dass das Genom von Trichoplax den geringsten DNA-Gehalt aller Metazoen hat! Das deutet auch an, dass Trichoplax nicht die progenetische (= sekundär stark reduzierte) Form eines ausgestorbenen Taxons ist.