Peter Bexte: Die Schönheit der Analyse

Nachwort zu William Hogarth: Die Analyse der Schönheit.
Verlag der Kunst, Dresden 1995, S. 212- 228


William Hogarths Analysis of beauty von 1753 ist ein Werk des Übergangs. Es ist alt und neu zugleich, mischt Nahes und Fernes auf doppelbödige Weise. Das Buch ist noch den älteren Maler-Traktaten verbunden und eröffnet zugleich neue Wege, die bis an die Jetztzeit führen. Es kennt noch die barocken Mensch-Maschinen und bezieht sich schon in aufklärerischer Emphase auf >die Natur<. Es argumentiert einerseits normativ und sucht endgültige Grundformen; andererseits aber ist es wesentlich von einem kritischen Impuls getragen: to see with our own eyes. Niemand solle sich von akademischen Kunstrichtern für dumm verkaufen lassen, sondern mit eigenen Augen sehen lernen! Hogarth setzt auf den vorurteilsfreien Menschenverstand. Seine Überlegungen enthalten eine Theorie des Sehens, und das heißt für ihn: des Selber-Sehens. Alles andere wäre blinder Kunstbetrieb. - Die Aversion dagegen hat an Frische nichts verloren.

I. Textbilder/Bildtexte

Die Entstehungsgeschichte des Textes ist lang und verwickelt; sie beginnt paradoxerweise mit einem Gemälde. Wir wollen diesem Weg hier folgen: über die Bilder zurück zum Text, über das Sehen zum Lesen. Im Jahre 1745 malte Hogarth ein Selbstportrait mit Hund(1). Der Künstler war zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt. Seine satirisch-moralischen Kupferstiche hatten ihn berühmt gemacht, so daß es eigentümlich anrührt, wie distanziert der humoristische Künstler sich hier darstellt (- unsere Ausgabe bringt die Kupferstichversion von 1749). Wir sehen ihn nicht nah, sondern auf einem Bild im Bild. Genaugenommen ist dieses Selbstbildnis also das Portrait eines Portraits. Es erinnert sich schon an sich selbst und wird überdies wie eine Grabstele von einem Tuch umflort. So fällt das Auge des Satirikers auf eine doppelbödige Welt und zeigt den Blick eines Mannes, der sich seinem Hund ähnlich wußte und dessen Bilderzyklen in Gefängnissen oder Irrenanstalten enden.

Es ist ein Bild des Übergangs, wie auch an der Haartracht ersichtlich. Hogarth verzichtet sehr bewußt auf das Emblem der alten Ordnung, die Perücke. Doch zeigt er sich noch nicht im natürlichen Haarwuchs, den man bereits in Diderot-Portraits erblickt. Die Mütze auf dem Kopf verdeutlicht Hogarths Zwischenposition: Man sieht nicht mehr die falsche Lockenpracht und noch nicht das offene Haar.

Mit distanziertem Ausdruck blickt der Künstler in die Ferne. Die Verdoppelung der Ebenen zum Bild im Bild erinnert an Shakespeares entlarvende Bühne auf der Bühne im Hamlet. Tatsächlich stützt sich das fiktive Portrait auf drei Bücher, welche die Schriften von Shakespeare, Swift und Milton darstellen sollen. In dieser Überschreitung des Bilderrahmens im Bilde selbst kündigt sich bereits der interdisziplinäre Geist seiner Analysis an, die nicht nur auf Gemälde zielt. Die Fundierung des Bildes auf Literatur ist das Erste und keineswegs Selbstverständliche, was daran auffällt.

Es sei an dieser Stelle gleich hinzugefügt, welches Buch hier fehlt: Euklids Elemente der Geometrie, auf welche die Maler-Traktate der Renaissance sich zur Begründung von Optik und Perspektive gestützt hatten(2). Beide Themen interessieren Hogarth nur noch am Rande. Fast möchte man sagen, seine Kunst gehe mit einer untergründigen Zersetzung des perspektivischen Bildraums einher. Gewiß hat er ihn schulmäßig genutzt und sich auch in einer bekannten Karikatur über falsche Perspektiven mokiert, doch sind ihm Fehler dieser Art in der eigenen Produktion immer wieder unterlaufen(3). Es ist deutlich zu bemerken, daß das Zentrum des Interesses sich verlagert hat. Die epistemologische Vertauschung von Geometrie und Literatur wird uns weiter unten noch beschäftigen.

Das Selbstportrait von 1745 zeigt rechterhand Hogarths innig geliebten Hund Trump und in der gegenüberliegenden Ecke eine Malerpalette. Auf dieser erhebt sich eine dreidimensionale Schlangenlinie über der Aufschrift The LINE of BEAUTY And GRACE. W. H. 1745. Damit war das zentrale Stück von Hogarths Kunsttheorie erstmals öffentlich gemacht: Sie würde zunächst einmal keine Farbenlehre sein, sondern eine Formenlehre. Der spätere Stich aber weist gegenüber dem Gemälde eine irritierende Veränderung auf. Es wurden nämlich nicht nur die Seiten spiegelbildlich vertauscht(4), sondern kleine Details hinzugefügt, unter anderem auf der Palette. Das ursprüngliche Gemälde von 1745 zeigte hier nur eine Schlangenlinie nebst Beschriftung. Die spätere Version aber fügt eben das hinzu, was ein Kupferstich nicht zeigen kann: Farbe. Wir sehen unterhalb der S-Linie sieben Tupfer, die stufenweise von Schwarz nach Weiß aufsteigen. Wie malt man mit einer solchen Palette? In diesem Rätsel liegt der Schlüssel zur Analysis.

Nach der Ausstellung des Öl-Portraits drängten Freunde den Künstler, seine Gedanken ausführlich darzulegen und die Theorie der Schlangenlinie zu erläutern. Es sollte jedoch noch acht Jahre dauern, bis dieses Buch geschrieben war. Mühsam nur wurde aus einem Bild, das Bücher zeigt, ein Buch, das Bilder analysiert.

Hogarths Kunst zeigt größte Nähe zur Literatur. Sie ist eine Kunst des Übergangs auch in dem Sinne, daß sie zwischen dem Malen und dem Schreiben changiert. Die schroffe Trennung, welche die Neuzeit zwischen ikonischen Bildflächen und linearen Schriftzeichen eingeführt hatte, wird hier unterminiert. Es scheint in diesen Werken eine andere Durchlässigkeit zwischen den Bereichen zu geben, und zwar nicht nur in dem banalen Sinne, daß Hogarth Bücher illustriert hätte (wie etwa Butlers Hudibras). Ein erzählerischer Gestus ist vielmehr das innere Strukturgesetz seiner großen Bilderzyklen aus der mittleren Schaffensphase: A Harlot's Progess (1732), A Rake's Progress (1734), Marriage à la mode (1745) etc. Daß Georg Christoph Lichtenberg sie in ausführlichen Erläuterungen verschriftlichte, ist diesen Bildern zunächst einmal adäquat(5)

Daß er aber die formalen Analysen von Hogarths Kunsttheorie dabei vergaß, sollte nachdenklich stimmen. Hier liegt der Beginn einer Rezeption, die Hogarth zum Geschichtenerzähler macht und darüber die Doppelstruktur des Kunstwerks versäumt: die Stillstellung seiner Bewegung im ästhetischen Zeichen, wie die Analysis sie einerseits vorführt und zugleich überschreitet. Denn an der Schlangenlinie sind Stillstellung und Bewegung gleichzeitig gesetzt. So überbrückt sie den Abgrund zwischen Geometrie und Literatur. Um so überraschender ist es aber, daß die Analysis keine Theorie des Narrativen enthält. Würde jemand einzig dieses Buch kennen, so wäre Hogarths bildnerische Produktion für ihn wohl schwerlich vorstellbar.

Dem Künstler selbst ist der Übergang Bild / Schrift nicht leicht gefallen, und diese Tatsache spricht für ihn. Es sollte stets verdächtig stimmen, wenn ein Künstler sich allzu geläufig über seine Kunst verbreiten kann. Mehrere seiner literarisch gebildeten Freunde haben ihn bei der Niederschrift der Analysis of Beauty redaktionell unterstützen müssen, so daß der Text am Ende recht heterogene Sprachschichten aufwies. Joseph Burke hat 1955 diese Dinge klargelegt, sie bilden ein Kernproblem jeder Übersetzung. Schon der englische Urtext ist nicht aus einem Guß. Hier spricht ein Nicht-Literat, der sich mitunter noch in den Schwierigkeiten der eigenen Muttersprache verfängt, was dann von mehreren Freunden mit verschiedenen Vorstellungen überarbeitet wurde. Der Stil hat nicht immer die Grazie, von der das Buch spricht. Gewisse Härten sind darum auch in einer Übersetzung unvermeidlich.

Der Weg vom Malen zum Schreiben (und vom Betrachten zum Lesen) führt bei Hogarth über ein weiteres Bild: den Kupferstich Das Ei des Kolumbus (Columbus Breaking the Egg, April 1752), welcher ein Jahr vor dem Erscheinen der Analysis als Subskriptionsblatt herauskam (vgl. Abbildung). Jeder Subskribent erhielt es als Quittung für eine Vorauszahlung von 5 Schillingen. Die Darstellung ist in einer für Hogarth typischen Weise humoristisch, wenn nicht gar blasphemisch angelegt. Der Bildaufbau zeigt eine Parodie auf Leonardos Abendmahl: Christus wurde durch Kolumbus ersetzt, aus den verwunderten Jüngern sind wütend überrumpelte Gelehrte geworden. Das sprichwörtliche Ei des Kolumbus aber, das Hogarth in Sachen Kunst gefunden haben will, ist in einer Schale auf dem Tisch zu sehen. Dort winden sich zwei Aale in Gestalt der LINE of BEAUTY And GRACE. Die Message dieses Stichs war deutlich: Hogarth beanspruchte erstens, die Lösung eines Fundamentalproblems gefunden zu haben, und zweitens machte er sich vorab schon über seine Gegner lustig.

In dem langen und Hogarth erbitternden Streit, welcher dem Erscheinen des Buches folgte, war der zentrale Vorwurf gegen ihn, es sei ja alles schon bekannt und nur bei dem Michelangelo-Schüler Lomazzo abgeschrieben(6). Allerdings hatte Hogarth nie behauptet, die Schlangenlinie erfunden zu haben. Ihre Bedeutung für barocke Gestaltungen ist evident, und was wäre der Muschelstil, die Rocaille des Rokoko, ohne geschwungene Linienführung? Sie war in vielen Traktaten dieser Zeit - nicht nur von Lomazzo - thematisiert worden.

Ein gewisser Anachronismus scheint Hogarths Untersuchung nicht ganz abzusprechen zu sein. Man bedenke nur, wie ein Watteau zu gleicher Zeit mit Farbnuancen zauberte! Hogarth aber präsentiert zunächst einmal den Vorrang der Zeichnung vor dem Kolorit, wie er seit Leon Battista Albertis Trattato della Pittura (1436) zum ehernen Bestand der Traktatsliteratur zählte. Die Bedeutung des Dissegno mag dem Kupferstecher nahe gelegen haben, und zwar so sehr, daß sein Plädoyer für Rubens am Ende des XIV. Kapitels völlig überraschend wirkt. Hier wird der Rückgriff auf das Alte ihm produktiv fürs Neue. Die Analysis of Beauty ist durchaus formale Analyse, und der Text des Subskriptonsblatts sprach es deutlich aus: "wherein Forms are considered in a new light". Im Unterschied zu Älterem jedoch ist Form hier nicht geometrisch gefaßt, sondern als analytische Reihe. Selbst die Farben (Kap. XIV) und die Schatten (Kap. XII) werden einem formalen System der Variationen unterworfen, dessen auf- und abschwellende Grade Hogarth numerisch anschreibt: 5, 4, 3, 2, 1, 2, 3, 4, 5, 4, 3, 2, 1, 2, 3, 4, 5. Hier haben wir den Code der S-Linie und wissen nun, was es bedeutet, mit einer Palette zu malen, auf der statt Farben eine Schlange liegt. Ihre Kurve ist eben nicht nur graphische Linie. Indem Hogarth sie in der Stich-Version des Selbstportraits über der Reihe von sieben schwarz-weißen Tupfern anbringt, macht er sie zum Symbol eines Prinzips der Variationen, das auch die Farben erfaßt. Diese doppelte Bestimmtheit erlaubt es ihm, so überraschend bruchlos zwischen Zeichnung und Kolorit hin- und herzuwechseln. Beide fußen auf demselben analytischen Denken, dessen Bild die Schlange vom Baum der Erkenntnis ist.

Zur Klärung dessen wollen wir die beiden Kupfertafeln der Analysis of Beauty betrachten. Hogarth bot sie auch separat zum Kauf, sie tragen nämlich das Programm in sich. Daher können sie uns Auskunft über das erste Wort des Titels geben. Das 18. Jahrhundert fragte sich, was Schönheit sei; wir aber fragen: Was heißt >Analyse

II. Analytische Tafeln

Der erste Blick auf Tafel I ist verwirrend. Als wolle Hogarth einen Grundsatz seiner Theorie vor Augen führen, sieht man zunächst Variety, eine Mannigfaltigkeit von Dingen, deren wechselseitige Beziehungen nicht gleich einsichtig sind, zumal die Durchnumerierung chaotisch wirkt. Da gibt es antike Statuen unter Flaschenzügen; anatomische Zeichnungen neben Navigationsaufgaben; Tischbeine, Serien von Korsetts und Portraits; darüber Engelsköpfe, Kakteen, Petersilie und Zahnräder. Kurz: Es ist eine Mischung aus Antikensehnsucht und Maschinenglauben, womit Horst Bredekamp die Kunst- und Wunderkammern dieser Zeit beschrieb(7). Das Blatt zeigt etwas von dem Sammelsurium dieser Vorläufer des Museums. Es findet sich historisch genau an der Schwelle zu den großen europäischen Museumsgründungen; wir sehen die Sammlung im Umbau. Ein Jahr zuvor (1752) hatte das Londoner Parlament die Privatsammlung Sir Hans Sloane aufgekauft und auf dieser Basis das British Museum gegründet. Es war das zweite öffentliche Museum Englands neben dem Ashmolean Museum in Oxford, das 1683 ebenfalls aus einer Privatsammlung hervorgegangen war. Dieser Strukturwandel ist mitzudenken, wenn Hogarth die Kunstkenner angreift und sich statt dessen an Öffentlichkeit wendet. Der vom Mäzen emanzipierte Einzelkünstler kann sich an die Großstadtmenge richten, seit das erste Copyright der Welt ihn schützt: Im Jahre 1735 hatte das englische Parlament den Schutz geistigen Eigentums vor Raubdruckern beschlossen. Man nannte das Gesetz auch Hogarth-Act, denn der Künstler hatte sich jahrelang für eine solche Bestimmung eingesetzt. Seine frühen Stiche waren allzu häufig >abgekupfert< worden. Erst nach Erlaß des Copyrights hat Hogarth seinen Bilderzyklus A Rake's Progess herausgegeben, um sich damit als Freiberufler auf dem Kunstmarkt zu behaupten. Von dieser Entwicklung wurde die ältere Gestalt des gönnerhaften Auftraggebers an den Rand gedrängt. In der marginalen Figure 1 der Tafel I erblickt man seine Karikatur.

Die Durchnummerierung der Figuren erweckt den Eindruck eines Kataloges. Es könnte auch ein Werbeblatt von Antikenhändlern sein, wie es sie um 1750 zahlreich gab(8). Die Anwesenheit von Flaschenzügen und Skizzenbüchern verstärkt den Werkstattcharakter des vorgestellten Skulpturenhofes, zu welchem Hogarth durch eine Szene aus Xenophons Erinnerungen an Sokrates angeregt worden sein mag(9). Hier sind die berühmtesten Figuren versammelt, an denen die Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts ihre Begriffe von Antike bildete. Vorn in der Mitte findet sich der Torso von Belvedere (Fig. 54) vor der Venus von Medici (Fig. 13). Linkerhand sieht man den vatikanischen Antinous (Fig. 6) in Kontrast zu einem höfischen Tanzmeister. Über ihnen erhebt sich der Herkules Farnese in zwei Ansichten (Fig. 3 + 4). Rechterhand wird eine Caesarstatue mehr stranguliert als aufgestellt, gleich neben dem Apoll von Belvedere (Fig. 12). Dessen ausgestreckter Arm kreuzt sich eigentümlich mit der Hand eines Schauspielers im Brutusgewand, welcher seine Schriftrolle wie ein Messer über Ceasar schwingt. Insgesamt zeigt die Tafel auf untypische Weise einen Kanon von Figuren, wie er typisch ist für diese Zeit. Das Ensemble wird sich erst im 19. Jahrhundert radikal verändern, und zwar durch die Entdeckung der Aegineten(10) und des archaischen Griechenlands. Hier sind noch die Statuen gezeigt, die man auch bei Winckelmann und Goethe findet. Was aber Hogarth von den beiden unterscheidet, steckt in der Analyse, die er den Gestalten unterlegt. In diesem Verfahren liegt das Entscheidende und nicht in der Schlangenlinie als solcher, welche rasch zu Spott auf >Schlängler< führen könnte, wie man ihn bei Goethe findet(11).

Betrachten wir die berühmteste Figur jener Zeit: Laokoon im Kampf mit den Schlangen. Die Gruppe steht im Hintergrund des Skulpturenhofes unter einem dreibeinigen Aufzug (Fig. 9). Auf raffiniert spielerische Weise sind darin die klassische Figura Piramidale und die manieristische Figura Serpentina in eins gesetzt: zur ganzen Ordnung der Form, wie Hogarth einmal sagt. Er wiederholt an dieser Stelle eine Grundidee des Vorsatzblattes zur Analysis (vgl. Abbildung), wo sich über dem Wort Variety eine Schlange in einer Pyramide findet. Was dort abstrakte Skizze war, wird hier von Laokoon figürlich eingelöst. Das Vorsatzblatt gibt den Konstruktionsplan der Statue, oder gegenläufig betrachtet: Es analysiert die Struktur des Laokoon. Hier haben wir die Analyse seiner Schönheit - seine Analysis of Beauty.

Dieses Wechselverhältnis von Konstruktion und Analyse ist entscheidend. Es bildet eine Rückkoppelungsschleife ohne Leerraum für ein Je ne sais quoi. Aufklärung will Klarheit und keine Dunstglocke. Auch Grace soll nicht mehr Gnade sein, sondern vermittelbare Einsicht. Schon der Untertitel des Buches hatte Festschreibungen des Unbestimmten angekündigt: "Fixing the fluctuating ideas of taste". Die Grundstruktur der beiden Tafeln ist tatsächlich analytisch, und zwar durch das Spannungsverhältnis von rahmender Bildleiste und szenischer Darstellung.

Den Ausgangspunkt der Tafel I gibt das Zentrum der oberen Bildleiste (Fig. 23-26). Dort wird aus der Kombinatorik zweier Grundbausteine, der Geraden und der Kurve, die doppelt gekurvte Gerade entwickelt: die Schlangenlinie. Sie ist das Ergebnis einer systematischen Kombinatorik, die ihrerseits in ein System der Variationen übergeht. Links davon sieht man sieben mehr oder weniger gestauchte S-Linien (Fig. 49), die sich rechts in Stuhlbeinen (Fig. 50) wiederholen und auch in der unteren Bildleiste in sieben Korsetts (Fig. 1-7) erscheinen. So entsteht aus Kombination und Variation ein System der Entsprechungen, das auch ins Bildinnere eingreift. Fast möchte man an die Formatierleiste eines Computer-Graphikprogrammes denken, wo sich abstrakte Elemente vom Rand in die Arbeitsfläche transponieren lassen: Ziehen Sie die Linie Fig. 49/4 auf den Antinous (Fig. 6) herunter, so wird die Figur mit dieser mittleren - und das heißt für Hogarth der idealen - Linie übereinstimmen(12). Der allzu steife Tanzmeister an seiner Seite entspricht dagegen der zu flachen Linie von Fig. 49/1 und gilt deshalb als unschön. Die Formen erweisen sich mithin als doppelt determiniert. Auf einer horizontalen Ebene sind sie Teil einer analytischen Reihe; auf einer vertikalen Ebene dienen sie als physiognomische Ausdrucksformen und werden zu Darstellungsmitteln des Seelenlebens. In diesem Sinne gibt die Bildleiste Konstruktionselemente für psychologisch motivierte Figurationen. Gehen wir aber den umgekehrten Weg von den Figuren zum Rahmen, so kommen wir zur formalen Analyse ihrer Gestalt. Es ist ein Wechselspiel von Literarisierung der Geometrie und Formalisierung des Ausdrucks.

Die Kupfertafeln der Analysis of Beauty sind eine Schule des Sehens, sie dienen der Sichtbarmachung unsichtbarer Strukturen hinter den Erscheinungen. So führen sie auf ein formales System, das Variety als Variété der Variationen begreifen läßt: ein Variété der Köpfe und Perücken, der Körper, Linien und Farben. Lassen Sie Ihr Auge durch Gin Lane wandern oder eine andere von Hogarth vielen Straßenszenen. Nehmen Sie seine Charaktere und Karikaturen (1743), oder betrachten Sie Die fünf Ordnungen der Prücke (1761) - stets basiert das Bild auf einem System der Variationen, dessen Symbol die Schlangenlinie ist. Sie ist der Ort des Durchgangs für die Mannigfaltigkeiten. Und damit ist die Einheit eines Werkes wiederhergestellt, die verloren gehen mußte, solange man im Geist der Goethe-Zeit organische Naturen suchte, ohne einen Sinn für das barocke Unterfutter der Analysis zu haben. Daher die schlechten Übersetzungen und die mangelnde Tradierung des Textes. Erst die neuere Techno-Kultur hat uns den Barock wieder nahegebracht, seine Maschinen und seine Ars Combinatoria(13). Und vor diesem Hintergrund ist das Werk plötzlich wieder zusammenhängend lesbar: im Übergang von Altem, das uns neu ward, zu einem Neuen, welches uns veraltete.

Im Sinne einer formalen Kombinationskunst läßt sich bemerken, wie nahe Hogarths Analysen und seine Satiren beieinander liegen. Was sie verbindet, ist ein Gestus der Enthüllung. So wie der Satiriker die welke Haut unter der Schminke erblickt und das allzu Menschliche hinter eitlem Pomp, so sieht der Analytiker das Schraubengewinde des Tanzkörpers, den Beckenknochen unter der Haut und die Varianten der Schönheitslinie in der Bewegung eines Armes. Beide durchschauen und enthüllen. Sie sehen die Körper von innen, was Hogarth als Verfahren der Anschauung empfiehlt. Die Zerstückelung des Leibes im Blick unter die Haut lebt aus dem Geist analytischer Aufklärung. Es hat tiefen Sinn, daß Mylius 1754 das Wort Analysis mit >Zergliederung< übersetzte. Die Hogarthschen Körper zerfallen allesamt in ihre Glieder. Nicht von ungefähr gibt es Parallelen zu den Tafeln der großen Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert. Wird dort eine Maschine vorgestellt, so sieht man in der unteren Bildhälfte ihre Einzelteile und darüber die zusammengesetzte Apparatur im Arbeitsprozeß. Es ist ein aufklärerisches Verhältnis von Analyse und Konstruktion, sprachtheoretisch gesagt: von Wörterbuch und syntaktischer Verknüpfung(14). Man beachte die Stellen, an denen Hogarth von einer Grammatik des Ausdrucks spricht!

Das Dilemma von Aufklärung aber steckt in ihrer Pädagogik. Auch Hogarth Schule des Sehens ist nicht frei davon, wie Fig. 121 von Tafel II zeigt. Hier haben wir die Geburt der schwarzen Pädagogik aus dem Lichte der Vernunft. Wir sehen ein anmutiges kleines Mädchen, und die dazugehörige Stelle in Kap. XVII verrät uns auch die Technik des Anmutig-Machens: Sein Zopf ist am Kragen festgebunden worden, um das Kinn zu schöner Form zu heben. Diese Fesselung zum Zweck der Kultivierung demonstriert ein bezeichnendes Paradox: Zwang zur Ungezwungenheit. In solchem Widersinn wird spürbar, was gnadenlose Grace bedeuten kann. Jean Starobinski prägte dafür das Wort von der Erfindung der Freiheit.

Das System der Sichtbarmachung aber zeigt im Rückblick noch ein weiteres auf, das Hogarth unmöglich hat ahnen können. Der Weg vom Bild zum Tafel-Rand ist ein Stück Kunstgeschichte in nuce: Es ist der Weg der analytischen Zerlegung der künstlerischen Mittel, den das 20. Jahrhundert bis zur Entleerung des Bildraumes vorangetrieben hat. Die analytische Befragung des Bildes sollte für weite Teile der modernen Kunst zur treibenden Kraft werden. Zerlegungen in reine Farben, reine Formen - der Grundriß dieser Motorik wird uns bereits bei Hogarth vorgeführt, und zwar nicht nur im Ansatz, sondern überraschenderweise bereits mit den Ergebnissen.

Man betrachte daraufhin die obere Bildleiste der Tafel II. Sind die linearen Stenogramme (Fig. 123) der Tanzgruppen des Hauptbildes etwa keine Art Brut?!? Die Strichmännchen dort oben (Fig. 71) mögen biographisch auf eine Gedächtnistechnik des jungen Hogarth zurückgehen, der sich graphische Abstracts anlegte, um Bilder zu erinnern. Man denke sie sich jedoch stark vergrößert und beispielsweise neben einen Penck gehängt ... Auch die abstrakten Pinselstriche gleich daneben (Fig. 84 + 85) ließen sich bei entsprechender Vergrößerung bestens in Museen für die Kunst des 20. Jahrhunderts plazieren. Sehr zu Recht hat Berthold Hinz dazu bemerkt: "Hogarths konsequente Formalisierungen sind die Bedingung für diese wohl früheste Antizipation abstrakter Kunst."(15) Möglich aber wird dies einzig durch den Geist der Analyse.

Hogarths Ziel war es gewesen, eine Begründung der Ästhetik zu schreiben. Seine Analyse der Schönheit jedoch demonstriert uns ungewollt, was im 20. Jahrhundert dominierend werden sollte: die Schönheit der Analyse.

PETER BEXTE


1. Es findet sich in der Tate Gallery, London. - Abbildung und weitere Hinweise in Hogarth/Mandel 1978, Plate XLVIII und Nr. 160 des Werkkataloges.

2. Vgl. die erste Seite von Albrecht Dürer Unterweisung der Messung (1525): Oben beruft er sich auf Euklid, unten führt er drei Linien ein - Gerade, Kreis und auch die Schlangenlinie. Im Unterschied zu Hogarths S-Kurve steht sie hier aber im Zusammenhang von Projektionsmethoden und Theorie der Perspektive.

3. Vgl. den Kupferstich Satire on False Perspective (1754). - Das hier Karikierte ist ihm zuweilen selbst unterlaufen, vgl. Paul before Felix (1752), wo die Hand des Apostels versehentlich zwischen den Beinen der Tocher des Landpflegers zu liegen scheint. Hogarth unternahm mehrere Korrrekturversuche (vgl. NGBK 1980, S. 192 ff.).

4. Was eine eigene Untersuchung wert wäre! Viele von Hogarths Bildern liegen in zwei Versionen vor: als Gemälde und als Stich. Gerade für den narrativen Duktus seiner Szenen sind Rechts-Links-Vertauschungen, wie sie beim Stechen notwendig geschehen, außerordentlich irritierend. - Vgl. zu dem Problem H. Wölfflin: Über das Rechts und Links im Bilde. Das Problem der Umkehrung in Raffaels Teppichkartons; in ders., Gedanken zur Kunstgeschichte, Basel 1941, S. 82-96. - R. Arnheim: Kunst und Sehen, Berlin 1964 (bes. 19 f.).

5. Georg Christian Lichtenberg: Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche (1794-1833). Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, München 1972, Bd. III, S. 657-1060.

6. Vgl. NGBK 1980, 176 f.

7. Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993. - Die Literatur zum Thema Kunstkammer ist mittlerweile uferlos geworden. Eine mit schönem Überblick geschriebene Sammelrezension verfaßte Ingo Herklotz: Neue Literatur zur Sammlungsgeschichte. In: Kunstchronik, H3/1994, S. 117-135.

8. "Warenhaus und Kunstsammlung zeigen hier ihre geheime Verwandschaft," merkte Werner Hofmann zu der Tafel an. - Hofmann, Werner: Museumsdämmerung? Schriften der kurhessischen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft, H1/1989, S.16.

9. Xenophon: Erinnerungen an Sokrates, 3. Buch, Kap. 10, 6 ff. - Eine englische Übersetzung von Hogarths Freund und literarischem Berater Thomas Morell (1703-1783) findet sich im Manuskript-Konvolut (vgl. Burke1943).

10. Man findet die 1811 entdeckten Giebelfiguren des Tempels von Aegina in der Münchener Glyptothek.

11. Vgl. die bösen Bemerkungen in Goethe, Der Sammler und die Seinigen. Werke (Weimarer Ausgabe), I. Abtheilung, 47. Band, Weimar 1896 (Reprint München 1987), S. 200 f.

12. Die Frage, welche von den vielen möglichen Schlangenlinien denn die schönste sei, stellt sich natürlich sogleich. Lessing hat sie im Vorwort zu seiner Ausgabe der Mylius-Übersetzung aufgeworfen. Auch Diderot notierte zweifelnd: "Wenn aber die Wellenlinie die Schönheitslinie des menschlichen Körpers wäre, welche von tausend Wellenlinien müßte man dann bevorzugen?" (Verstreute Gedanken, Nr. 317. In: Ästhetische Schriften, hg. v. Bassenge / Lücke, Berlin - Weimar 1967, Bd. II, S. 636).

13. Vgl. Werner Künzel / Peter Bexte: Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers, Frankfurt a. M. 1993 .

14. Vgl. die entsprechende Untersuchung von Roland Barthes: Bild, Verstand, Unverstand. In d'Alembert, Diderot u.a.: Enzyklopädie. Eine Auswahl, hg. v. Günther Berger, Frankfurt a. M. 1989, S. 30-49.

15. B. Hinz in NGBK 1980, S. 181.