Wien Akademie
Verbale Graffiti sind eine sehr vergängliche Ausdrucksform. Ein Beweis jedoch für die Normalität der Erscheinung sind die zahllosen künstlerischen und literarischen Arbeiten, die uns Graffiti als Alltagsform des Volkes vorführen. Schon im 17. Jahrhundert verwendeten vor allem die holländischen Maler Graffiti-Sujets zur Verdeutlichung des Alltagsleben in ihren Werken.
In London sind in der Tate-Gallery Arbeiten des Malers und Karikaturisten William Hogarth (1697-1764) ausgestellt. Die meisten seiner sozialkritischen Werke beinhalten Graffiti als zentrales Motiv der Charakterisierung von Personen oder Völkern. Als Beispiel seien die Tafeln «The Invasion» (1756) genannt. Auf der ersten Tafel sieht man Franzosen, eher doof und böse dargestellt, wie sie trinken und zB. Frösche rösten. Die zweite Tafel zeigt vergnügte EngländerInnen vor einem Wirtshaus, welche «Rule Britannia» singen und sich über eine Karikatur von Louis XV. lustig machen, die von einem Grenadier an die Hauswand gezeichnet wird. Ein anderer Engländer vollführt vor der Karikatur mit seinem Schwert Kampfposen. Dem König aber ist eine Sprechblase beigefügt, in der er bedauert, daß ihm die Engländer alle Schiffe nahmen und sie an den Galgen wünscht.
Eine andere bekannte Hogarth-Arbeit mit Graffiti-Zusatz ist zB. der Stich, der das Leben in einem «Irrenhaus» darstellt. In der Mitte des Hintergrundes sieht man einen «Irren» von der Sorte verrücktes Genie über den Großteil der das Bild einnehmenden Wand eine Art Weltraumkosmos zeichnen und mathematische Formeln.
Auf das Pariser Massaker vom 2.-6. September 1772 spielt eine Tafel von James Gillray (1757-1815) unter dem Titel «Un petit Souper, a la Parisienne or A Family of Sans Culotts refreshing after the fatigues of the day» an. Die Arbeit zeigt die verhaßten Franzosen als Kannibalen, die Menschenfleisch essen und täglich Mardi Gras feiern. Graffiti an der Wand, besonders über der Feuerstelle, wo gerade ein Kind geröstet wird, heißen: «Vive la Liberte», «Vive la Egalite», «Leurs le Grande». Daneben ist ein Männchen in vornehmem Gewand gezeichnet, dem das Haupt abgeschnitten wurde. Die Familie hat ein Haupt am Teller und ißt menschliche Augen, ein Herz, einen Arm und Hoden.
Ein letztes Beispiel aus der Tate Gallery, welches künstlerisch die Tradition der verbalen Graffiti und ihre Bedeutung als gesellschaftliche Spiegel an der Wand zeigt: Mit Feder und Tinte erschuf Steve Bell (geb. 1951) angesichts der tragischen europaumspannenden Problematik von BSE (mad cow disease) eine Arbeit, die den (nunmehr früheren) englischen Premierminister John Major in Anzug und darübergezogener Unterhose darstellt. Die Komposition der Arbeit jedoch ist das genaue Zitat eines Werks von Hogarth, «O The Roast Beef of Old England - The Gate of Calais» (1748), in dem ein Küchenchef mit einem großen Fleischstück vor dem verschlossenen Stadttor von Calais steht. Bei Bell nun steht statt des Küchenchefs in der gleichen Pose John Major mit dem Fleischstück und beißt in das rohe Fleisch, als wäre er selbst verrückt. An den Mauern aber und am Boden steht überall, gewissermaßen als Menetekel Major umzingelnd, in gruselig welliger Schrift die Parole «Don`t panic» angeschrieben. Sicherheitsgründe und die Bedenken der Fleischwirtschaft haben vor allem zwischen Britannien und Frankreich vehemente Reibungen provoziert. Bell?s Arbeit wurde 1996 als Karikatur in «The Guardian» veröffentlicht. Das Thema BSE hat in ganz Europa die fleischessenden Menschen bewegt. Dies schlug sich natürlich auch in der «Sprache an den Wänden» nieder. Bei meinen Spurensuchen habe ich in London das Kürzel zwar nur einmal gefunden, in Frankfurt, München, Neapel und Wien, um nur Großstädte zu nennen, dafür zu wiederholten Malen. Rückblickend vielsagend ist das etwa zeitgleich auftretende vermehrte Aufscheinen der Veganer in Graffiti.
Durch Jahrhunderte hatten sich insbesonders Schriftsteller der Beschäftigung mit den anonymen Botschaften gewidmet. Victor Hugo schreibt 1831 wie er zu seinem Roman «Der Glöckner von Notre Dame» inspiriert worden war. Als er einmal die versteckten Winkel der Pariser Notre-Dame-Kathedrale durchstöberte, fand er das griechische Wort «Ananke» (= Verhängnis oder schicksalhafter Zwang) in an gotische Schreibkunst erinnernden Schriftzügen in die Mauer eingeritzt. Der düstere Sinn des Wortes hätte den Autor intensivst ergriffen. Er empfand ihn schwermutsvoll und von einem unbekannten Los, einer bedrängten Seele kundgebend , «welche nicht von der Welt hatte scheiden wollen, ohne diese Erinnerung an ein Unglück oder Verbrechen zu hinterlassen».
1862 erwähnte Hugo in «Die Elenden» die Rolle der Graffiti für die Pariser Straßenjungen. An diversen Stellen des in der längsten deutschen Übersetzung 1600-seitigen Romans bilden verbale Graffiti Drehpunkte für die Handlung, stellen gewissermaßen Überschriften dar, die den meist dramatischen Beginn eines neuen Abschnittes im Schicksal des Protagonisten ankündigen. Noch ein Blick in Hugo?s «Die Elenden», S.1080: An die Wand eines Wirtshauses, neben dem eine Straßenbarrikade errichtet worden war, ritzt während einer Kampfpause ein Aufständischer «Es leben die Völker» ein. Diese Worte standen laut Hugo (1832) tatsächlich neben der historisch echten Barrikade und seien noch 1848 zu entziffern gewesen.
Eine Bedeutende Persönlichkeit hinsichtlich Graffiti war Restif de la Bretonne (1734-1806), Erfolgsschriftsteller in Paris. Er sammelte nicht nur die handgeschriebenen Aufschriften von ZeitgenossInnen sondern schrieb selbst Graffiti, indem er allgemeine und persönlichste Lebensereignisse hauptsächlich an den Kaimauern der Ile Saint Louis festhielt und datierte. Sie sollten ihm Vergangenes vergegenwärtigen, wenn er die Stellen wieder aufsuchte. Die Zeitgenossen beleg-ten ihn mit dem Beinamen «Griffon/Kritzler». Später transkribierte Griffon seine eigenen Inschriften und gab sie als Buch heraus: «Mes Inscriptions, Journal intime», Paris 1798 (Datierung unsicher).
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte der Engländer V. Roberts in Gasthäusern, Toiletten und an öffentlichen Plätzen anonyme Botschaften gesammelt, mit der Intention einer Gegenüberstellung von inoffiziellen Äußerungen und «gelehrten Studien des höfischen Teils der Welt». Die Zurkenntnisnahme unterschiedlicher Gedanken von Personen verschiedenen Ranges sei sein Anliegen gewesen. Er erweiterte mit seiner Sammlung den HistorikerInnen die Möglichkeiten realeren Einblicks in gesellschaftliche Verhältnisse dieser Zeit.
Zu den inhaltlich berühmtesten und bis heute immer wieder reproduzierten Graffiti gehören Georg Büchners Kampfruf «Friede den Hütten, Kampf den Palästen» und Bakunins «Kein Gott - Kein Staat - Kein Sklave», welches er 1853 in riesigen Lettern an die Züricher Börse schrieb. Auch der Titel des 1848 im Umfeld der Badischen Revolution in Deutschland geschriebenen Liedes «Die Gedanken sind frei» erlebte, vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, in Graffiti eine Rennaissance. «Friede den Hütten, Kampf den Palästen» wurde zuletzt in größerer Zahl von Serbien-Sympathisanten verwendet, wie zB. gleich dreimal über ganze Wände der U6-Station Gumpendorferstraße in Wien zur Zeit des Kosovo-Krieges.
Als Merkmal kann man einem bedeutenden Teil der Graffiti zuschreiben, daß sie in der Sprache des Widerstands gehalten sind. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hat Cesare Lombroso die Bedeutung von Graffiti für international tätige Anarchisten beschrieben. In «Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien» beklagt er, daß die Kerkermauern dem Gefangenen eine ganze Welt von Mitteilungen und Informationen vermitteln und für die Korrespondenz das prächtigste Schreibmaterial. Ein Gefangener beschrieb die Hilfestellung, die Haftraum-Graffiti Gefangenen leisten können: «Ich selbst erfuhr, während ich in Chalons sur Saone in der heimlichsten Zelle eingesperrt war, von den infolge meiner Verhaftung in Paris, Wien [...] stattgehabten Arretierungen, was mir von höchstem Werte war.»
Zuletzt sei noch die ehemalige Wiener Klofrau Wetti Himmlisch angeführt, die Ende des Jahrhunderts in Wien arbeitete und 1906 ihre Memoiren herausgab, die zu einem «Renner» wurden[buch]. In diesem Buch zieht sich das Graffitieren wie ein roter Faden durch die Handlung. Die BesucherInnen von Himmlisch?s «Hygieneinstitut» hinterließen zahlreiche Inschriften, welche von Himmlisch gesammelt und im Buch teilweise veröffentlicht wurden. Die Anstalt dürfte in der Nähe des Parlaments gelegen sein, da Himmlisch von Abgeordneten und in- und ausländischen Diplomaten berichtet, die ihre teils polaren Meinungen oft diskursartig an die Klowände schrieben. Sonst gaben die KundInnen Lebensweisheiten, Liebesdinge und Skatologisches von sich. Schon der Himmlisch war aufgefallen, was später wiederholt beschrieben wurde: Die Damen der sogen. besseren Gesellschaft hinterlassen die vulgäreren Botschaften. Einfache Frauen, die sich nur das Klosett 2. Klasse leisten konnten, äußerten eher Romantisches. Und die Männer zeichnen gerne.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in mehreren Metropolen eine Zeit reger Bautätigkeit und Zuwanderung unglücklicher und unzufriedener Menschen. Es entspricht nur der Logik, daß Bau-Planken, Reklameflächen etc. zur Anbringung unerfragter Botschaften animierten. Die heutigen Plakate für eine Fotoausstellung über Wien im 19. Jahrhundert zeigen, wie vor allem entlang der Verkehrsadern die Fassaden und die Verkehrsmittel mit Werbung bepflastert gewesen sind. Solche Flächen sind stets Wiesen für Schreibblüten.Wie auch aus einem Gesetzestext zu den im vorigen Jahrhundert in vielen Städten aus dem Boden geschossenen Litfaßsäulen, also «Anschlag»-Säulen, hervorgeht, wurde das Verfremden von Plakaten und offiziellen Anschlägen mit Strafe geahndet.
Bereits Josef II. ließ sogen. Zettel-Ankleber in den Narrenturm sperren. Ein Hinweis: Auch heute noch ist es üblich, daß vor allem ältere Menschen ihre Botschaften daheim auf einen Zettel schreiben, den Zettel kopieren und an allen möglichen Stellen der Stadt ankleben. Die Tagger bedienen sich ebenfalls dieser Zettel, zumeist der moderneren selbstklebenden. Viele schreiben ihr kalligraphisches Pseudonym auf ein «Pickerl», fotokopieren auf andere Pickerln und bekleben im Vorbeigehen damit unauffällig die Stadtmöblage.
Übrigens wurde Joseph II. selbst Opfer eines Graffito-Anschlags. Die Wiener begriffen nicht, warum der Kaiser so viel Geld für den Bau des Narrenturms ausgab. Eines Tages prangte an dessen Gemäuer folgende Parole in Kreidestrichen: «Josephus II. Augustus, hic primus».
Eine Sonderstellung nimmt eine Graffiti-Kette ein, die in ihrer Ganzheit aus Oderberg zitiert wird, welches zwar weder Graffitimetropole noch sonstwie Metropole genannt werden konnte oder kann. Das Graffito taucht allerdings variierend in einem oder mehreren Teilen noch hundertzwanzig Jahre nach seiner ersten vollständigen Aufzeichnung noch von Zeit zu Zeit in deutschen oder österreichischen Universitätsstädten auf. Ein Norddeutscher beschimpft die Bayern, worauf ein Bayer die Preußen beleidigt, sich sodann ein Österreicher über die Einheit der Deutschen lustig macht und zuletzt ein Ungar seinen Spott gegen alle Deutschsprachigen richtet. Ort der Niederschrift: Ein Klo. Des Österreichers Strophe heißt: «Wer Deutschlands Einheit sehen will/braucht gar nicht viel zu wandern/denn, wie man hier geschrieben sieht/scheißt einer auf den andern./Ein Österreicher».